Ende des Bildvertrauens oder Beginn einer neuen Aufklärung?

Soziale Medien wie Facebook, Instagram und TikTok sind geprägt von einer Flut synthetischer Inhalte. Fakes mit Anschein von Authentizität und Spontaneität reichen von der politischen Desinformation über unglaubliche Tiergeschichten bis hin zu vermeintlichen Promi-Neuigkeiten. Sie verschmelzen zu einer virtuellen Realität, die kaum noch von Bildern der anfassbaren Wirklichkeit zu unterscheiden ist. Die Folgen sind bei einigen Nutzern der Impuls zum Rückzug aus den Sozialen Medien, ein Gefühl der Überforderung und die Frage, warum man sich überhaupt noch der Mühe unterziehen soll, Wahrheit von Erfindung zu trennen. Es handelt sich bei diesen Phänomenen um Begleiterscheinungen des Fortschritts im Bereich der Generativen Künstlichen Intelligenz. Eine kulturpessimistische Interpretation würde allerdings die Chancen verkennen, die sich trotz allem in dieser Entwicklung auftun.

Klar ist, dass die Identifikation der Fakes, parallel zu den monatlichen technologischen Sprüngen, immer schwieriger wird und für den Durchschnittsnutzer ohne forensische Werkzeuge oftmals kaum mehr leistbar ist. Wir befinden uns da gerade in einer Übergangsphase: Vom Zeitalter des naiven Glaubens an die Wahrhaftigkeit des technischen Bildes hin zu einer neuen Ära, in der jedes Bild, ob fotografiert oder generiert, grundsätzlich als Fiktion, als Konstrukt, betrachtet werden muss. Diese Verschiebung, oft als Verlust von Objektivität empfunden, birgt andererseits ein aufklärerisches, dialektisch wirkendes Potenzial in sich, das an kritische Medientheorien und die Fotografiegeschichte anknüpft.

Der gegenwärtige Widerwille gegen die Überflutung mit Fakes speist sich aus einem tief verwurzelten, historisch gewachsenen Vertrauen in die Wahrhaftigkeit von Fotos und Videos. Wer technisch erzeugte Bilder bislang für eine objektive Wiedergabe der Realität hielt, ist nun aber, vollkommen zu Recht, ent-täuscht. Um dies zu verstehen, muss man den Status des technischen Bildes (Vilém Flusser) in Erinnerung rufen.

Im Gegensatz zum Gemälde, dem stets eine künstlerische Narrenfreiheit in der Darstellung zugestanden wurde, trug die Fotografie seit ihrer Erfindung ein implizites Realitätsversprechen in sich. Die Kamera, so die vorherrschende Meinung, war ein neutrales, mechanisches Gerät, das die Welt, wie sie ist, unverfälscht abbildet. Roland Barthes bezeichnete in Die helle Kammer (1980) das Wesen des fotografischen Bildes als ein Es ist so gewesen. Die ontologische Verbindung zwischen dem abgebildeten Objekt und dem Bild galt deshalb auch als Grundlage seiner Beweiskraft vor Gericht, des journalistischen Ethos und der Rolle als familiäres Gedächtnismedium.

Doch das Versprechen war immer schon trügerisch. Bereits vor der digitalen Revolution war die Fotografie alles andere als objektiv. Allein die Wahl des Ausschnitts ist ein subjektiver, interpretativer Akt. Was wird ein- und was ausgeschlossen? Henri Cartier-Bresson sprach zwar vom Entscheidenden Augenblick, doch die Entscheidung, welcher Moment das ist und wie er gerahmt wird, liegt beim Fotografen. Auch Blende, Verschlusszeit, Brennweite und Filmmaterial – all diese Parameter beeinflussen die Darstellung. Ein Weitwinkel verzerrt, ein Teleobjektiv komprimiert den Raum. Technische Entscheidungen sind nicht neutral, sondern gestaltende Eingriffe. So kann auch ein kurzer Moment des Gähnens zum verallgemeinernden Charaktermerkmal eines Politikers stilisiert werden, das eine Karriere ruiniert. Die Komplexität einer Person oder einer Situation wird auf einen einzigen, aus dem Kontext gerissenen Moment reduziert. Es handelt sich hierbei um ein grundlegendes Machtmerkmal der Fotografie.

Die Digitalisierung der Kameras und Werkzeuge wie Photoshop haben die Manipulation weiter demokratisiert und potenziert. Was einst die Dunkelkammer des Fotografen war, wurde zur benutzerfreundlichen Oberfläche mit allerlei weitergehenden Eingriffsmöglichkeiten. Die Erkenntnis, dass man einer Fotografie nicht trauen kann, ist daher schon seit Längerem eine kaum noch überraschende Einsicht. In der breiten öffentlichen Wahrnehmung hielt sich dennoch hartnäckig der Glaube an die Objektivität der Kamera. Spätestens die KI-gestützte Generierung von Bildern und Videos als Deepfakes wird nun jedoch zu einem Katalysator, der das ohnehin brüchige Realitätsversprechen des technischen Bildes endgültig zerstört. Sie führt die Illusion der Objektivität so drastisch vor Augen, dass sie für jeden unübersehbar wird.

Jean Baudrillard beschrieb, schon vor der Digitalisierung, in Agonie des Realen (1978) das Verschwinden der Realität in einer Flut von Zeichen und Simulationen. Diese sind nicht mehr Imitation einer Realität, sondern schaffen eine Hyperrealität, die realer als die Wirklichkeit selbst wirkt und diese schließlich ersetzt. Die KI-generierten Fakes in den Sozialen Medien sind Manifestationen einer solchen virtuellen Hyperrealität. Oft sind sie sogar perfekter, ästhetisch ansprechender und narrativ kohärenter als die chaotische, unvollkommene Wirklichkeit.

Der Zusammenbruch der Referenzialität, also der direkten Bezugnahme des Bildes auf eine reale Vorlage, mag als Verlust empfunden werden. Doch er hat auch eine aufklärerische Dimension. Die Zeit rückt näher, in der technische Bilder genauso wie Gemälde grundsätzlich als das betrachtet werden, was sie prinzipiell immer schon waren: fingierte Wirklichkeiten. Niemand wird mehr automatisch glauben können, dass es sich genau so zugetragen hat.

Diese Entwicklung zwingt zu einer Reifung unserer visuellen Alphabetisierung. Schon Neil Postman warnte vor den Gefahren eines unkritischen Medienkonsums. Die KI-Revolution macht die Forderung nach einer reflektierenden Rezeptionskompetenz nun aber dringlicher denn je. Kommende Generationen, die mit virtuellen Bildwelten aufwachsen, werden eine inhärente Skepsis entwickeln und verinnerlichen, dass Bildern jeglicher Art grundsätzlich mit Vorbehalt zu begegnen ist. Das Wissen, dass nichts mehr wahr sein könnte, transformiert den Rezeptionsmodus vom naiven Glauben hin zu einem spielerischen Agnostizismus. Man weiß, dass es sich um ein Spiel von Zeichen und Bedeutungen handelt, an dem man teilnehmen kann oder auch nicht.

Um die Wirkung von KI-Fakes in den Sozialen Medien zu verstehen, muss man die inhärente Logik dieser Plattformen begreifen. Sie bildeten noch nie einen Raum der puren Dokumentation, sondern waren für die Performance und Selbstinszenierung gedacht. Erving Goffmans Theatermodell, wonach Menschen in sozialen Interaktionen wie Schauspieler auf einer Bühne agieren, findet heute seine ultimative Ausprägung im Netz. So sind viele der coolen Social Media Geschichten keine spontanen Abbilder der Alltagswirklichkeit, sondern sorgfältig kuratierte und inszenierte Ideale. Sie folgen Algorithmen der Aufmerksamkeit in Gestalt von Likes und ästhetischen Supernormen. Das perfekte Aussehen, der vorgeführte Lifestyle und ein durch Konsum erreichbares Glück sind der eigentliche Inhalt. Wenn die Grenze zwischen unbearbeitetem Foto und generiertem Ideal aber ohnehin verschwimmt, warum sich dann noch mit der Unvollkommenheit des eigenen Gesichts abfinden, das flink mit einem KI-Filter in Echtzeit symmetrischer und gefälliger gemacht werden kann? Die Orientierung an Idealen wird zur Norm. Die KI wird zum Werkzeug einer vom Realitätsprinzip gelösten Selbstoptimierung.

Die Erkenntnis, dass man nichts mehr glauben kann, befreit aber auch von dem Zwang, überhaupt etwas glauben zu müssen. Wenn alle Bilder potenziell konstruiert sind, verliert das einzelne Bild seinen ontologischen Anspruch. Der Betrachter gewinnt eine neue Souveränität. Er kann die Bilder als das sehen, was sie sind: ästhetische Objekte, narrative Bausteine, Spielzeuge in einem großen, globalen Bedeutungstheater. Dies setzt jedoch, und das ist entscheidend, eine entwickelte Medienkompetenz voraus. Ohne ein kognitives Handwerkszeug, mit dem die Entstehungskontexte, die möglichen Intentionen und die technischen Grundlagen von Bildern verstehbar werden, bleibt der Nutzer entweder naiv-gläubig oder zynisch-verwirrt. Medienkompetenz in der KI-Ära bedeutet nicht mehr, nur Quellen zu prüfen, sondern auch, die Ästhetik des Künstlichen zu erkennen, die Logik von Algorithmen zu verstehen und eine kritische Haltung gegenüber der eigenen Wahrnehmung zu entwickeln.

Vor diesem Hintergrund erscheint die Option, sich aus den Sozialen Medien frustriert zu verabschieden, als zwiespältig. Einerseits gibt es das Bedürfnis, dem ständigen Druck zur Entlarvung der Fakes und der Wirkung toxischer Hyperrealitäten zu entfliehen. Andererseits käme ein solcher Rückzug einer Kapitulation und einer Verkennung der künftigen medialen Landschaft gleich.

Die Fähigkeit, sich in einer Welt der synthetischen Medieninhalte bewusst zu bewegen, wird zu einer grundlegenden Kulturtechnik des 21. Jahrhunderts, ähnlich wie einst Lesen und Schreiben. Die Medienwelt der Zukunft wird keine Alternative mehr dazu erlauben, sich täglich mit der Unterscheidung von Sinn und Unsinn, Konstruktion und Dokumentation auseinanderzusetzen. Dies ist anstrengend, aber es ist auch eine Chance. Sie zwingt uns, erwachsen zu werden im Umgang mit Bildern, das naive Vertrauen in die Technik abzulegen und uns der interpretierenden Verantwortung zu stellen.

Das Ende des technischen Bildvertrauens ist nicht das Ende der Wahrheit, aber vielleicht der Beginn eines aufgeklärten, anspruchsvolleren Verhältnisses zur visuellen Welt. Wir müssen lernen, nicht mehr zu fragen Ist das wahr?, sondern Was will mir dieses Bild sagen? Wer hat es warum und mit welchen Mitteln erschaffen? Und welches Spiel spiele ich dabei? Solche Fragen waren in der Geschichte von Bildern eigentlich schon immer angebracht. Kulturpessimistische Untergangsphantasien scheinen deshalb in Anbetracht von KI-Fakes nicht unbedingt notwendig zu sein. Nur wer in der Ent-täuschung verharrt und nicht weiter über den Charakter der schönen neuen Medienwelt nachdenkt, könnte zur Verbitterung neigen.

Zu befürchten ist allerdings, dass sich die liberaldemokratische Gesellschaft insgesamt nicht ausreichend wehren wird, um sich vor den Fakes in den Sozialen Medien zu schützen. Da können einzelne noch so reflektiert mit den Dingen umgehen, die Chancen für Demagogen mit populistischem Auftreten stehen nicht schlecht. Neben den Hoffnungen auf eine dialektische Wirkung der KI-Fakes bleibt deshalb vor allem das Gefühl einer Bedrohung der liberalen Gesellschaft.

Wer sich mit Grundsätzlichem zur gegenwärtigen KI-Entwicklung befassen möchte, dem sei im Übrigen das Gespräch mit dem Philosophen Markus Gabriel über KI, Gefühle, Macht auf Youtube empfohlen.

 

Weiter
Weiter

Diane Arbus im Gropius Bau