Künstliche Intelligenz und die Kunst des Misstrauens

Die Sozialen Medien gleichen einem globalen Basar der Perspektiven. Hier tummeln sich nicht nur Meinungen, Affekte und Geschmacksurteile, sondern auch künstliche Intelligenzen, die täuschend echte Avatare generieren, überzeugende Texte verfassen und Bilder aus dem Nichts erschaffen, die keine reale Referenz mehr haben. Diese Erscheinungen, viele davon explizite Fakes, rufen das Bedürfnis nach einer Unterscheidung von Wahrheit und Unsinn mit einer nie dagewesenen Dringlichkeit hervor. Die intuitive Reaktion, nichts mehr zu glauben, sondern die Dinge sorgfältig zu prüfen, erscheint als einzig vernünftiger Rettungsanker in einem Ozean aus Simulationen. Der vorangegangene Blogbeitrag Ende des Bildvertrauens oder Beginn einer neuen Aufklärung? hatte sich bereits mit einem Teilaspekt der Thematik befasst. Hier einige zusätzliche Gedanken.

Der Ratschlag, spontan erst einmal nichts zu glauben, ist mehr als nur eine pragmatische Regel der Medienkompetenz. Er ist, radikal gedacht, eine philosophische Haltung, die schon in den Schriften Nietzsches verwurzelt ist, einem Denker der radikalen Perspektivität, der Entlarvung billiger Rationalisierungen und der Befreiung von der Tyrannei endgültige Wahrheiten.

Nietzsches Welt als Interpretation ist der archimedische Punkt, von dem aus sich auch die Debatte um KI und Fakes einordnen lässt. Wenn es keine absoluten Wahrheiten, sondern nur Interpretationen gibt, dann ist die Frage Was ist wahr? immer auch die Frage Wer interpretiert hier, mit welchen Interessen und aus welcher Perspektive? Die naiv-realistische Vorstellung, dass unsere Wahrnehmung das Abbild einer objektiv feststellbaren Realität sei, erweist sich als unhaltbar. Genau eine solche Naivität macht aber anfällig für Täuschungen. Wer glaubt, medial vermittelte Dinge als das zu sehen, was sie sind, wird kaum misstrauisch, wenn ein mit KI perfekt inszeniertes, aber fiktives Bild präsentiert wird, das mitunter jedoch nichts anderes bedient als eigene Vorurteile.

Die Negierung absoluter Sichtweisen ist, ist nicht gleichbedeutend mit Nihilismus. Im Gegenteil, sie ist die Voraussetzung für ein produktives und verantwortungsbewusstes Denken. Der Nihilist würde sagen: Es gibt keine Wahrheit, also ist alles egal. Der Perspektivist hingegen: Es gibt keine einzige Wahrheit, also müssen wir die Verantwortung für unsere Interpretationen übernehmen und sie kritisch hinterfragen. Die Forderung, die Genese von Erkenntnissen und insbesondere der sie prägenden Interessen in den Blick zu nehmen, fremde im Übrigen genauso wie eigene, ist die unmittelbare praktische Konsequenz dieser Haltung. Auf die Sozialen Medien übertragen bedeutet das: Bevor ich einen Inhalt teile oder für wahr halte, muss ich fragen: Wer steht hinter diesem Account? Eine reale Person, eine Organisation, ein Bot, eine KI? Welches Interesse könnte diese Instanz haben? Welches emotionale Bedürfnis in mir spricht dieser Inhalt so an, dass ich geneigt bin, ihm zu glauben? Und das alles vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Algorithmen der Plattformbetreiber täglich maßgeschneiderte Beiträge offerieren, die genau meinem Profil entsprechen und dieses damit verstärken.

Aus der radikalen Perspektivität folgt jedoch nicht, dass es lediglich Meinungen, aber keine Fakten mehr gibt. Den entscheidenden Unterschied markiert das regulierte Diskurssystem der Wissenschaft. Innerhalb dieses Systems können Hypothesen sehr wohl als wahr oder falsch beurteilt werden, zwar nicht absolut und für alle Ewigkeit, aber relativ zu den geltenden Methoden der Erkenntnis und dem aktuellen Forschungsstand. Das wissenschaftliche Denkmodell ist die institutionelle Umsetzung der Forderung, erst einmal nichts zu glauben, sondern die Dinge sorgfältig zu prüfen. Die scientific community arbeitet sich an Poppers Falsifikationsprinzip und Kuhns Paradigmentheorie ab: Wahrheit ist kein fester Besitz, sondern ein prozesshaftes, kollektives Unterfangen der kritischen Prüfung und des fortwährenden Infragestellens. Demagogen aller Art bemühen sich genau deshalb nach Kräften, alles Wissenschaftliche zu diskreditieren. Sie wollen verhindern, dass es überhaupt einen Maßstab für die Unterscheidung wahrer von falschen Urteilen gibt.

Verwirrungen entstehen auch dann, wenn wissenschaftliche Aussagen an Kriterien eines anderen gesellschaftlichen Subsystems gemessen werden. Ein KI-generierter Fake, der den Klimawandel leugnet, ist ein Beispiel für solche Grenzverwischungen. Die Hypothese der menschengemachten Erderwärmung ist ausschließlich mit Methoden der Wissenschaft überprüfbar. Sie kann nicht durch politische Mehrheiten, emotionale Appelle oder, und das ist ein neuer Faktor, durch die massenhafte Generierung überzeugend wirkender, aber inhaltlich falscher KI-Botschaften widerlegt werden. Die Flut der Fakes ist deshalb auch ein Angriff auf die Autonomie des wissenschaftlichen Diskurssystems. Sie versucht, durch die reine Masse und Perfektion der Simulationen den Eindruck einer kontroversen Debatte zu erwecken, wo innerhalb der Wissenschaft ein überrwiegender Konsens herrscht. Wer der Aufforderung zum skeptischen Prüfen folgt, muss also nicht nur den Einzelinhalt prüfen, sondern auch das Diskurssystem, aus dem er stammt und in dem er Geltung beansprucht. Ist dies ein wissenschaftlicher, ein künstlerischer, ein politischer oder ein religiöser Kontext? Die Regeln der Wahrheitsfindung sind in jedem dieser Systeme fundamental verschieden.

Warum sind Menschen anfällig für Fakes und einfache Welterklärungen? Nietzsche hatte schon vor Freud erkannt, dass Vorlieben und Meinungen von unbewussten Affekten gesteuert werden. Meist geht es um Anerkennung. KI-gestützte Desinformationskampagnen sind die technologisch fortgeschrittenste Form dieses Macht- und Anerkennungskampfes. Sie sind kein Streit um Wahrheit, sondern ein Kampf um Deutungshoheit. Eine demokratische Wahl mit Hilfe von KI-Fakes zu beeinflussen, bedeutet, die narrative Kontrolle über die Realität zu erlangen. Der Sinn, mit dem Inhalte aufgeladen werden, dient hier nicht der Erkenntnis, sondern der Mobilisierung und Machterhaltung oder deren Gewinnung.

Die Attraktivität simpler Weltbilder liegt in ihrer psychologischen Ökonomie. Sie entlasten den Einzelnen von der anstrengenden Aufgabe des permanenten Zweifelns und Prüfens. So kann der Glaube an eine x-beliebige Verschwörungstheorie durch KI-generierte Beweise gestützt werden und ein kohärentes, in sich geschlossenes Weltbild sowie eine starke Gemeinschaft Gleichgesinnter erzeugen.

Im Feld der Kunst scheint, im Gegensatz zur Wissenschaft, das Prinzip Anything goes zu herrschen. Es gibt keine Gehorsamspflicht gegenüber ästhetischen Normen. Schließlich geht es um Ausdruck, nicht um Verifikation. Auf den ersten Blick ist dies das Gegenteil einer skeptischen Prüfung. Aber selbst hier gilt, dass die Kriterien für gute Kunst einem ständigen Wandel unterliegen. Die Kunstgeschichte ist voll von Beispielen dafür. Der kreativ Befreite ist sich deshalb bewusst, dass ästhetische Urteile nicht in Stein gemeißelt, sondern Produkte historischer, kultureller und affektiver Kräfte sind. Diese Einsicht befreit von der Sklaverei gegenüber vermeintlich für die Ewigkeit gesetzter Geschmacksgesetzen.

Durch die Sozialen Medien kommen nun neue Sklaventreiber ins Spiel. Wer, auch als Künstler oder Künstlerin, auf Klicks und Likes erpicht ist, wird wohl dem Mainstream folgen. Die Plattformen haben einen neuen Geschmacks-Tyrannen erschaffen. Der KI-Algorithmus, der darauf optimiert ist, Aufmerksamkeit zu maximieren, lernt blitzschnell, welche ästhetischen Muster, emotionalen Reize und inhaltlichen Kontroversen die meisten Likes generieren. Er wird zum perfekten Erzeuger und Verstärker einer Mainstream-Ästhetik. Diese kann experimentell aussehen, kritisch aufgeladen oder irgendwie einfach nur geschmackvoll sein, konsumierbar für die Wohnzimmerwand.

Stets lässt sich für vieles, das als schön oder gut beurteilt wird, eine rational wirkende Begründung finden, selbst wenn diese hier und dort gequält oder konstruiert erscheint. Schon Nietzsche hatte das Wesen des Erklärzwanges erkannt und sich bei der Entzauberung wohlfeiler, jedoch substanzloser Geschwätzigkeiten konsequent unbarmherzig gezeigt. Dieser Erklärzwang erreicht im Zeitalter der KI eine neue Qualität. Oft werden Kunstwerke von Kuratoren mit tiefsinnigen, oft esoterischen Geschichten aufgeladen, um ihren Marktwert zu steigern. Heute können auch KI-Systeme solche Geschichten generieren. Sie erzeugen nicht nur Bilder, sie können auch eine kunstkritische Analyse dazu liefern, voller jargonbeladener Verweise auf Intentionalität und gesellschaftliche Relevanz, die jedoch nichts anderes als Ergebnis statistischer Muster sind.

Die Forderung, die Dinge sorgfältig zu prüfen, muss sich gegen diesen Lärm der Rationalisierungen richten. Sie verlangt, die oft dünne Qualität der Erklärungen, auch für Kunstwerke, zu entschlüsseln und bei Bedarf mit einer Lachsalve zu beantworten. Aber sie ermutigt auch, die Dinge wirken zu lassen, ohne sofort nach einer verbalen Deutung zu gieren. In einer Welt, in der die Künstliche Intelligenz jede beliebige Erklärung in Perfektion herstellt, wird die Fähigkeit, Stille auszuhalten und die Authentizität eines nicht-sprachlichen Werkes zu würdigen, zu einer radikalen Form der geistigen Hygiene.

Die Gegenwart, geprägt von KI-Erscheinungen und Fakes, erscheint auf den ersten Blick als desillusionierte, postfaktische Ära. Doch sie bietet auch die Chance, mit naiven Realismen und bequemen Gewissheiten zu brechen. Sie zwingt uns, die Lektion der Perspektivität, die Nietzsche vor nahezu anderthalb Jahrhunderten formulierte, ernst zu nehmen. Die Haltung, erst einmal nichts zu glauben, sondern die Dinge sorgfältig zu prüfen, ist deshalb keine defensive Paranoia, sondern eine aktive, souveräne Lebensform. Sie ist die praktische Anwendung von Nietzsches Einsicht der Kulturgebundenheit aller Wahrheiten. Sie verlangt, stets die Interessenlage zu hinterfragen, das jeweilige Diskurssystem zu identifizieren (Wissenschaft, Kunst, Politik, Religion) und die dort gültigen Regeln der Wahrheitsfindung zu reflektieren. Sie konfrontiert uns darüber hinaus mit eigenen unbewussten Affekten, die anfällig machen für bestimmte Narrative.

In einer solchen Haltung vereinen sich der skeptische Geist des Wissenschaftlers, der die Falsifikation sucht, die Freiheit des Künstlers, der sich vom Diktat des algorithmischen Geschmacks befreit, und die Wachsamkeit des Bürgers, der die Machtstrategien hinter politischen und anderen Deutungshoheiten durchschaut. Dies eröffnet den Weg zu einer Freiheit zur Distanz gegenüber den Anforderungen und Zumutungen der sozialen Umwelt, die nun auch eine digitale ist. Diese Freiheit ist jedoch nicht so leicht zu haben. Sie erfordert Mut, Anstrengung und den beständigen Willen, sich nicht von der Flut der Erscheinungen und dem Sirenengesang einfacher Antworten betäuben zu lassen. In einer Welt der simulierten Gewissheiten ist das gepflegte, auf Nietzsche gegründete Misstrauen vielleicht die letzte und wichtigste Form der Wahrhaftigkeit.

Der vorstehende Text hat einige Gedanken des fotosinn Essays Geschwätzigkeit und Massengeschmack aufgenommen und mit Überlegungen zur gegenwärtigen KI-Debatte neu geordnet und erweitert.

 

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Ende des Bildvertrauens oder Beginn einer neuen Aufklärung?