Liebe in misstrauischen Zeiten
Im Wesentlichen ist der Unterschied zwischen einem Foto und dem gerade ankommenden Licht eines seit Jahrmillionen toten Sterns nicht allzu groß. Beides zeigt Dinge, die längst vergangen sind. Zu dieser Erkenntnis gelangt der Fotograf András Szabad in dem grandiosen Roman Das Ende von Attila Bartis. Die Handlung spielt in Ungarn und umfasst Biografisches aus dem Leben von András bis in die Zeit nach der kommunistischen Herrschaft im Jahr 1989. Tagebuchartige Reflexionen verbinden sich mit subtilen Wahrnehmungen des politischen Geschehens. Zentrale Themen sind der niedergeschlagene Volksaufstand 1956 und die Nachwirkungen im Privaten. Misstrauen ist allgegenwärtig. Betrachtungen zur Fotografie durchziehen den Roman und spiegeln Gesellschaftliches im Individuellen.
Die Romanfigur András Szabad erlebt als Kind die Verhaftung seines Vaters, dem politischer Widerstand gegen das Regime vorgeworfen wird. Am Tag vor der Haftentlassung, drei Jahre nach der Inhaftierung, stirbt die Mutter. András lebt nun zusammen mit dem Vater zurückgezogen in Budapest, aber sie kommen nicht wirklich zueinander. Nach dem Tod Stalins beginnt die lähmende Kádár-Zeit, die bis 1989 andauern sollte. Die politische Repression unterscheidet sich von der Stalinära, bleibt aber alltäglich wirksam. András verlässt die Schule und arbeitet in einem Fotostudio, in dem er mit einer großen Linhof Technika kleine Passbilder erstellt. Nebenher fotografiert er mit einer Zorki, später bekommt er von seinem Vater eine Leica M3 geschenkt. Er nutzt sie nicht zuletzt für Porträts von Frauen, die ihm in irgendeiner Weise nahestehen.
Mit seiner großen Liebe verbindet ihn eine langjährige, wechselvolle Beziehung. Aber schließlich verlässt ihn die Geliebte, da sie ihm Misstrauen vorwirft, und zieht nach New York. Seine Negative hatte sie unbemerkt mitgenommen, um sie dort einem bekannten Galeristen vorzustellen. Dieser organsiert eine große Ausstellung, bei deren Eröffnung András anwesend ist. Er gilt nun als anerkannter Fotokünstler. Zurück in Ungarn wird er interviewt. Dabei lässt er in einem Nebensatz anklingen, dass seine lange zurückliegende Befreiung vom Wehrdienst in der Kádár-Zeit darauf zurückzuführen war, dass sein Vater, einstmals Widerständler, wohl mit Wissen von András eine Verpflichtungserklärung gegenüber der Staatssicherheit unterzeichnet hatte. Der Nimbus als politisch Standhafter ist erschüttert. Fotografiert hat Szabad nicht mehr.
Der Roman ist aus der rückblickenden Perspektive des zweiundfünfzigjährigen András geschrieben. Die Düsternis der grauen Kádár-Ära und das tief eingeimpfte Misstrauen hinsichtlich der Wahrhaftigkeit menschlicher Beziehungen spielen stets mit. Es scheint, dass die Kunst der Fotografie die einzige Liebe ist, die András nicht verlässt oder enttäuscht. Auch wenn er sie am Ende aufgibt.
Von dem Zeitpunkt an, da ich den Vergrößerer aufgebaut hatte, verbrachte ich ein Drittel meines Lebens bei rotem Licht, so András im Rückblick. Gemeint war die Arbeit in der Dunkelkammer. Dabei interessierten ihn weniger klischeehafte Motive wie modrige Mauern, verfallene Häuser oder dunkle Toreinfahren. Stets ging es um den Menschen. Um klassische Regeln der fotografischen Gestaltung scherte er sich nicht. Ein Negativ, das von anderen als nicht vergrößerungswürdig beurteilt und übergangen wurde, entdeckte er erst später wieder. Der Laborant hatte recht, es nicht zu vergrößern, es war ein miserables Bild. ... Ich pinnte das Bild an die Wand und sah es mir an, ich verstand es nicht. Ich verstand nicht, wodurch es so gespenstisch wirkte. Wieso es besser war als jedes andere Bild, das ich je gemacht hatte.
Diese Erfahrung prägte ihn und die meisten Porträts, die er jenseits der Passbildfotografie im alltäglichen Brotjob der Studioarbeit auf eigene Faust mit der Zorki, dann mit der Leica anfertigte. Nebenbei entstanden im Fotogeschäft ohne Wissen des Chefs mit der Linhof einige subjektive und höchst persönliche Bilder. Auch diese Art der Fotografie faszinierte ihn. Als ich mir das Tuch über den Kopf legte, um die Schärfe einzustellen, erfasste mich plötzlich ein Gefühl, als würde ich aus der Welt heraustreten. Wie wenn man unter Wasser taucht und den eigenen Herzschlag von innen hört. Dabei waren die so entstandenen Fotografien nicht präziser als die mit der Kleinbildkamera aufgenommen, sondern einfach nur anders. Jede Technik hat ihre Besonderheiten. Dennoch resümiert er im Rückblick, Hunderte von Fotografien verworfen zu haben, obgleich sie Kunstexperten prima befriedigt hätten. In ihm selbst hatten sie aber nichts ausgelöst. Im Übrigen habe ein Kritiker einmal ausgerechnet, so András, dass im Durchschnitt nur auf dreiunddreißig Prozent meiner Bilder überhaupt etwas zu erkennen ist. ... Dass ich Richtung Dunkelheit wegkippe, dass ich nicht helfe, die Welt im Gleichgewicht zu halten. Fotografie in grauen Zeiten eben.
Der Kunstwelt gegenüber bleibt András Szabad stets reserviert. Bei der Eröffnung einer Ausstellung ungarischer Fotografien in der Kádár-Zeit fühlt er sich vom Gerede irgendeines Präsidenten genervt. Dieser verglich die sozialistische Fotokunst mit der kapitalistischen und stellte fest, dass sich die Waagschale zugunsten der sozialistischen neige, denn diese sei nicht dekadent. Zwar fand sich auf den Bildern der Ausstellung meist etwas Interessantes und der Redner hatte, so András, recht. Die Fotografien bildeten präzise die ungarische Wirklichkeit jener Zeit ab, aber alles, was wirklich das Leben selbst ist, fügte sich auf diese Weise zu einer Art grauer Masse zusammen. So etwas fehlte in den eigenen Bildern ganz und gar. Er hatte sich für die dunklen Seiten entschieden.
Gleichwohl versteht András die Mechanismen der Kunstwelt. Ein Passfoto an sich bedeutet nichts. Ein Nichts als Hintergrund, ein Nichts als Beleuchtung, ein Nichts als Gesicht. Aber wenn ich die Kunsthalle mit allen Passbildern vollpacken würde, die ich je gemacht habe, und ich könnte das, glaube mir, na, das wäre bereits Stil. Heute würden wir von serieller Konzeptkunst sprechen. Diese interessiert ihn nicht. Nur die subjektiven und persönlichen, dunklen Arbeiten waren für ihn bedeutsame Zeugnisse seines Lebens.
Im Übrigen stört András das ununterbrochene Gerede über Fotokunst. Für mich war es nicht so eindeutig, dass jede gute Fotografie zugleich Kunst sei. Obwohl ich auch nicht hätte sagen können, wodurch eine Fotografie zur Kunst wird. Letztlich scheint das aber auch egal zu sein. Entscheidend ist, welche Bedeutung die Kamera für ihn selbst hat. Er fotografiert, was ihn wirklich berührt. Im Grunde hat mich immer nur interessiert, ob eine Fotografie das Gefühl wieder hervorrufen konnte, das ich in dem Moment hatte, als ich den Auslöser drückte. Jedes Bild ist ein Punkt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Wenn man will: die permanente Gegenwart. Aber das verweist eben auch auf den Tod des Augenblicks. Zur Vorbereitung auf einen Vortrag, zu dem sich András verpflichtet hat, will er Die helle Kammer von Roland Barthes heranziehen. Auch dieser hatte metaphorisch von einer Fotografie als dem kleinen Tod gesprochen.
Wer nun den Eindruck gewonnen hat, zentrales Fokusthema des Romans sei die Fotografie, irrt allerdings. Es geht um nichts anderes als die Liebe in misstrauischen Zeiten. Die Fotografie bietet Bartis dafür eine Hintergrundfolie. Im Kern handelt das Buch von der Sehnsucht nach einer verlässlichen Beziehung. Aber mit Garantie kann das eben nicht funktionieren. Vertrauen ist unerlässlich. Kontrolle tötet.
Unsere Zusammenfassung und Anmerkungen sind auf Fotografisches konzentriert und daher selektiv. Zu empfehlen ist, den Roman selbst zu lesen. Attila Bartis ist übrigens, dies zum Abschluss, gelernter Fotograf und weiß, über was er schreibt. Aber er ist eben auch ein grandioser Erzähler. András Szabad hatte das Glück, den Fotoapparat und das Labor zu haben. Vielleicht trifft dies ja auch auf Bartis selbst zu.
Der Roman Das Ende von Attila Bartis erschien 2017 in der deutschen Übersetzung bei Suhrkamp. Große Literatur.