Marcel Duchamp in Schwerin

Nach mehrjähriger Sanierung ist das Staatliche Museum Schwerin wieder für Besucher geöffnet. Zeitgemäße Technik und eine moderne Raumgestaltung in einem Bau aus den 1880er Jahren, nun besucherfreundlich und mit einem Blick auf das benachbarte Schloss: Das ist gelungen. Auf zwei Etagen werden Werke aus mehreren Jahrhunderten gezeigt. Oben stehen die Alten Meister im Vordergrund. Gemälde aus dem eigenen Bestand werden ergänzt durch Leihgaben aus dem Amsterdamer Rijksmuseum in Gestalt dreier Rembrandts. Die untere Etage ist der Moderne des 20. und des 21. Jahrhunderts vorbehalten. Neben Günther Uecker, Cornelia Schleime oder Wolfgang Mattheuer sind auch weniger bekannte Namen vertreten. Hinzu kommt an zentraler Stelle das Werk Flowers No. 7 von Hiroyuki Masuyama, eine riesige Fotoarbeit im Leuchtkasten, für die zahlreiche Blumen, über viele Jahre von ihm fotografiert, zu einer paradiesähnlichen Landschaft digital zusammenmontiert wurden. Und dann, ebenfalls im Untergeschoss, Marcel Duchamp.

In den 1990er Jahren konnte das Museum eine umfangreiche Sammlung von Arbeiten Duchamps mit mehr als 90 Werken und Dokumenten erwerben. Später kam zu deren Erforschung ein Zentrum hinzu. Die gegenwärtige Ausstellung repräsentiert diesen Schwerpunkt. Werke Duchamps, ein Video-Interview, Begleitkommentare und pädagogische Impulse, etwa mit der Frage, was ein Kunstwerk ausmacht, vereinen sich zu einem Angebot, das dazu einlädt, sich weitergehender als nur mit dem ikonisch gewordenen Urinal zu befassen.

Marcel Duchamp (1887–1968) gilt als einer der einflussreichsten und gleichzeitig umstrittensten Schlüsselfiguren der Kunst des 20. Jahrhunderts. Er war kein Künstler im klassischen Sinne, der durch handwerkliche Meisterschaft bestach. Eher ein Unbequemer, der Fragen nach dem Wesen der Kunst stellte. Seine frühen Werke standen noch unter dem Einfluss des Impressionismus, Fauvismus und Kubismus. Heute wird sein Name jedoch vor allem mit der Abkehr von jener Kunst verknüpft, für die, ganz traditionell, das ästhetische Empfinden im Vordergrund stand. Allzu gerne ist das Publikum geneigt, Kunstwerke als Ergebnisse von Geniestreichen zu betrachten, bei denen der Künstler als Medium emporgeschleuderter Urwahrheiten dient.

Duchamp erschien das zu banal und suchte das genaue Gegenteil. Ergebnis waren Ready-mades, meist industriell gefertigte, funktionale Gebrauchsgegenstände, die aus dem alltäglichen Kontext gelöst und dann durch die Signatur zum Kunstwerk erklärt wurden. Die künstlerische Leistung lag hier nicht in der Herstellung des Objektes selbst, sondern in einer Idee. Beispiele für seine Ready-mades sind Porte-bouteilles, ein Flaschentrockner, den er in einem Kaufhaus erstand, oder Roue de Bicyclette, eine auf einem Hocker an eine Fahrradgabel montierte Felge, die das Moment der Bewegung ins Kunstwerk einführte. Als bekanntestes, weil provokativstes Werk schließlich Fountain aus dem Jahr 1917, ein standardisiertes Urinal aus Porzellan, das Duchamp mit R. Mutt signierte und für eine Ausstellung in New York einreichte. Es wurde abgelehnt. Die Debatte hierüber ist das eigentliche Thema. Wer entscheidet darüber, was Kunst ist? Welche Rolle spielen Galerien, Museen und der Kunstmarkt? Was ist der Unterschied zwischen einem Ready-made und dem industriellen Serienprodukt gleichen Anscheins? Die hier beispielhaft genannten Werke sind in Schwerin allerdings nicht zu sehen. Dass im Übrigen die Urheberschaft von Fountain nicht ganz unumstritten ist, hat ein sehenswerter Beitrag auf ARTE  deutlich gemacht.

Duchamp war einer der ersten Protagonisten der Konzeptkunst. Das Primat gehört demnach der Idee, nicht ihrer Ausführung. Wenn die Entscheidung des Künstlers für ein Objekt sowie dessen Signatur und letztlich die Akzeptanz des Kunstmarktes ausreichen, um einen Flaschentrockner museumsreif zu machen, dann ist der vorausgegangene Gedanke des Künstlers oder der Künstlerin das eigentliche Kunstwerk. Seit den 1960er Jahren ist dies zu einem Bestandteil des Kunstverständnisses geworden. Pop-Art und Fluxus nahmen die Idee auf. Andy Warhol oder Robert Rauschenberg verwendeten Alltagsgegenstände und folgten Duchamps Kritik hinsichtlich der vermeintlichen Einzigartigkeit eines Werks sowie der Genialität des Künstlers. Und Fluxus wäre ohne Duchamps ironische Haltung nicht denkbar gewesen.

Duchamp dekonstruierte die großen Erzählungen der Moderne, den Glauben an einen vernünftigen Fortschritt, den Geniekult und die Autonomie der Kunst. Seine Arbeit ist spielerisch, witzig, sie zitiert und bricht mit Traditionen. Diese Haltung ist zu einem Kennzeichen postmoderner Kunst geworden. Sie hat den Kunstbegriff maximal erweitert und öffnete das Tor für nahezu alles: Performance, Installation, Land Art und Partizipatives. Duchamp war kein Zerstörer, wie ihm oft vorgeworfen wurde. Er befreite die Kunst vielmehr von den Fesseln des Handwerklichen und Ästhetischen und verwandelte sie in ein Feld des gedanklichen Diskurses. Kunst als Aufgabe für den Betrachter.

Duchamps Fragen nach der Rolle des Künstlers, des Kontexts und des Kunstmarkts sind auch heute relevant. Fast jede zeitgenössische Kunst, die sich mit Ideen, Institutionenkritik oder der Infragestellung von Originalität auseinandersetzt, steht in seiner Nachfolge. Im Schweriner Museum wird dies erlebbar. Wer schöne Dinge erwartet, wird vielleicht enttäuscht. Einige auf den ersten Blick banal erscheinende Exponate und viel Textliches ermuntern den denkbereiten Betrachter jedoch, nicht nach Ästhetischem, sondern nach Ideen und Konzepten zu fragen. In einem Interview, in der Ausstellung als Video gezeigt, gibt Duchamp selbst Auskunft: Es sei ihm um den Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Welt gegangen, die im kosmischen Ganzen vergleichsweise so klein sei. Und darum, den Künstler als kleinen Gott zu töten.

Ob die Abteilung Duchamp im Staatlichen Museum Schwerin breiten Zuspruch des Publikums findet, wird sich zeigen. Lobenswert ist sie allemal. Aber die Veranstalter scheinen selbst vorgesorgt zu haben. Auf dem Platz vor dem Museum steht eine aus Plastikröhren konstruierte, simple Skulptur mit der Aufschrift Provokation durch Kunst. Man darf diesen als Warnung interpretierbaren Hinweis durchaus albern und überflüssig finden.

Weitere Informationen zur Ausstellung im Staatlichen Museum Schwerin bietet die Website www.museum-schwerin.de. Der Eintritt ins Museum ist übrigens in den nächsten Jahren frei. Auch das soll erwähnt sein. Und ein Besuch Schwerins lohnt allemal.

Abschließend einige Gedanken zur Fotografie. Auch für sie waren die Diskussionen zum Kunstbegriff in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung, da Duchamp dessen Definition erweitert und damit die Tür geöffnet hatte, um letztlich auch Fotografisches einzubeziehen. Darüber wird heute nicht mehr ernsthaft gestritten. Das Medium Fotografie gilt grundsätzlich als Bestandteil künstlerischer Werkformen.

Hinzu kommt Duchamps Idee des Konzeptes. Sie hat in der zeitgenössischen Fotografie den Charakter eines verbreiteten Paradigmas angenommen. Zwar gibt es weiterhin das singuläre Großbild, ob von Gursky oder anderen, aber eben auch zahlreiche Beispiele für Konzeptionelles, etwa die Arbeiten von Bernd und Hilla Becher. Deren Serien von Bauwerken der untergehenden Industriearchitektur stellen nicht lediglich eine Addition gleichförmiger Einzelfotografien dar. Sie wollen mehr. Gewürdigt wurde dies durch die Verleihung des Goldenen Löwen an die Bechers anlässlich der Biennale 1990 in Venedig. Für die Juroren war die Beurteilung entscheidend, dass das eigentliche Kunstwerk in einer Idee bestand, die über die Serie von Einzelbildern hinausweist. Dieser Gedanke hat sich durchgesetzt. Das Werk der Bechers wird heute der Konzeptkunst zugeordnet und erst dann der Fotografie. Auch das klassische Prinzip des einzigartigen Meisterwerkes hatte im Seriellen einen Kontrapunkt gefunden. Letztlich geht dies ebenfalls auf Duchamps Zerstörung früherer Kunstgewissheiten zurück.

Marcel Duchamps Ready-mades mögen neben Expressionismus, Dada, Surrealismus, Konstruktivismus und anderen Ismen in den Jahren um 1920 nur ein Puzzleteilchen der Moderne gewesen sein. Aber seine Anti-Kunstwerke machen ihn zu einem Impulsgebers, an dem man nicht vorbeikommt. Auch wer fotografisch arbeitet, kann davon lernen. Die Ausstellung in Schwerin erinnert daran.

 

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