Das fotografische Porträt

Im Oktober des Jahres 1918 erschien in der Zeitschrift Die neue Rundschau der Beitrag Das Problem des Portraits. Autor war der Soziologe Georg Simmel. Zentrales Thema waren die Herausforderungen, mit denen sich der Maler konfrontiert sieht. Mit der Fotografie befasste sich Simmel nur beiläufig. Sie war für ihn keine Ausdrucksform, die es mit den etablierten Künsten aufnehmen konnte. Diese hatten stets besondere Aufgaben. Vom Mittelalter bis zum Beginn der Renaissance wurde das Porträt überwiegend als Mittel der Funktionsdarstellung von Rollenträgern und deren Status eingesetzt. Erst in den Jahrhunderten der Individualisierung hat es durch Aufklärung, Romantik und bürgerliche Ich-Findung mehr und mehr den in der Neuzeit vertrauten Charakter angenommen. Wir wollen in einem Porträt etwas Persönliches erkennen. Dem Mittelalter war diese Sichtweise noch fremd.

Was wir an einem Menschen als sinnlich Aufgenommenes wahrnehmen, ist, so Simmel, nicht identisch mit dem, was im täglichen Leben als Sichtbares bezeichnet wird. Es handelt sich um eine Verknüpfung optischer Tatsachen mit Beimischungen anderer Art. Gefühlsregungen spielen da ebenso eine Rolle wie der Standpunkt des Betrachters, kurz, der Mensch ist dem Menschen ein fluktuierender Komplex von Eindrücken aller Sinne und seelischen Assoziationen, von Sympathien und Antipathien, von Urteilen und Vorurteilen, Erinnerungen und Hoffnungen. Erst diese Gesamtheit formt das innere Bild, das wir von einer Person haben. Dies deckt sich mit Erkenntnissen psychologischer Wahrnehmungstheorien. Sehen ist kein passiver Prozess neutraler Signalaufnahmen, sondern ein Akt kognitiver Konstruktionen, die den Informationsreizen Bedeutungen zuschreiben. Subjektives ist da stets beigemischt.

Ein Maler kann gar nicht anders, als aus dem optisch Aufgenommenen ein interpretierendes Sinnenbild zu schaffen. Der Prozess unterscheidet sich grundlegend vom Reproduktionscharakter der Fotografie. Diese war für Simmel ein automatisiertes Verfahren, das zwar zu technisch sauberen Wiedergaben führt, aber nicht zum Wesenskern des Abgebildeten vordringt. Mit dieser Auffassung stand er nicht allein. Erst nach Simmel setzte sich die Erkenntnis durch, dass auch der Fotografierende Gestaltungsspielräume hat und seine Subjektivität eine Rolle spielt. Simmel folgte da noch einem traditionellen Verständnis. Nur das gemalte Bild könne sich dem seelischen Wesen des Porträtierten nähern. Das optisch Wahrgenommene werde durch die Betonung herausgehobener Aspekte so in ein Bild transformiert, dass sich eine lebendige Einheit von Körper und Seele offenbart.

Versteht man den Begriff der Seele nicht als eine Kategorie des Übersinnlichen, sondern als Summe von Charaktereigenschaften, leitet dies die Ausprägungen der Gesichtszüge auf vergangene Lebenserfahrungen zurück. Körperliche Formationen erweisen sich als Sedimente von Sozialbeziehungen. Ab einem gewissen Alter ist man für sein Gesicht verantwortlich. Dies kann jedoch auch eine Fotografie zum Ausdruck bringen.

Der Mensch vor der Kamera begibt sich mit einem Selbstbild und vor allem mit einem Idealbild der eigenen Persönlichkeit in die Porträtsitzung. Der Fotograf oder die Fotografin hinter der Kamera verfügt hingegen über ein Fremdbild des Menschen. Die Gewichtung der drei Perspektiven und der damit verbundenen Erwartungen wird im Idealfall von den Beteiligten ausgehandelt. Geht es um die Fixierung einer biografischen Entwicklungsphase, um eine Darstellung für Dritte, etwa als Imagefoto, oder um die Absicht des Fotografen, zur Mehrung der eigenen Reputation dem Portfolio das ausdrucksstarke Bild eines Prominenten hinzuzufügen? Die Klärung findet nicht unbedingt explizit statt, spätestens jedoch durch die Art des Umgangs miteinander.

Erfahrene Fotografinnen und Fotografen wissen dies zu berücksichtigen. Sie verfügen über die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Schließlich spielt bei der Aufnahme nicht nur der Mensch vor der Kamera eine Rolle, sondern auch die eigene Persönlichkeit. In erster Linie werden bei anderen nun einmal vorwiegend die einem selbst vertrauten Charakterzüge wahrgenommen. Es handelt sich um klassische Projektionsmechanismen. Diese können im Übrigen positiver wie negativer Art sein. Letztlich sind aber weniger die Prägungen, Vorlieben und Aversionen des oder der Fotografierenden entscheidend, sondern die Frage, welche Charakterzüge der Auftraggeber in seinem Bild hervorgehoben haben möchte. Keine leichte Aufgabe.

Der Mensch ist das einzige Lebewesen mit einer abstrakten Vorstellung von sich selbst. Und auch nur er denkt darüber nach, wie andere ihn wahrnehmen. Nur allzu gerne betrachtet er sich deshalb im Spiegel. Dieser zeigt ihn allerdings, nomen est omen, spiegelverkehrt. Da die Gesichtshälften nicht identisch ausgeprägt sind und nur wenige Menschen einen symmetrischen Mittelscheitel tragen, sehen uns andere eben nicht so, wie es das Antlitz im Spiegel suggeriert. Anders ist dies bei einer Fotografie. Da uns diese richtig zeigt, nehmen wir das ungewohnte Porträt kritischer wahr, als dies beim morgendlichen Blick in den Badezimmerspiegel der Fall ist.

Die Imaginationskraft von Bildern ist eine Macht. Dies ist seit Jahrhunderten bekannt, schon lange vor der Fotografie. Da sich Bilder heute endlos betrachten lassen, können sich Vorstellungen entwickeln, die sich verselbständigen und in Form von Überzeugungen schließlich verfestigen. Wird eine Person nur häufig genug auf eine bestimmte Weise gezeigt, hält man das Bild am Ende für charakteristisch. Fotografien sind geeignet, komplexe Dinge, und dazu gehört die Persönlichkeit von Menschen, zu versimpeln. Porträtbilder führen zu Projektionen, zu Erwartungen und Urteilen. Historisch gesehen, ist das jedoch keine neue Erscheinung.

Bei dem vorstehenden Text handelt es sich um überarbeitete Auszüge aus dem fotosinn Essay Die Furcht vor dem eigenen Portrait.

 

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