Der Augenblick im Strom der Zeit
Fotografie findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern stets in einem sozialen Kontext. Was wir Bildrealität nennen, ist ein erlerntes Kulturprodukt und damit potentiell kontingent. Zwar hat die globalisierte Angleichung von Lebensformen dazu geführt, dass viele Alltagsszenen weltweit verstanden werden, es bleibt jedoch ein möglicher Rest von Fremdheit. Riten und Gebräuche, die uns selbst nicht vertraut sind oder die wir als solche vielleicht gar nicht erkennen, können das adäquate Verständnis eines Bildes einschränken. Ob eine Fotografie wahrhaftig ist, kann deshalb von einem Fremden, an anderen Orten sind übrigens wir die Fremden, mitunter kaum beurteilt werden. Alltagsszenen werden vor allem im eigenem Kulturkontext verstanden.
Alles ist in Bewegung. So sah es schon Heraklit. Das Leben, die übrige Realität und die Vorstellungen von beiden sind gleichbedeutend mit stetigen Veränderungen. Die Geschichte der Philosophie ist ohne eine solche Wesensbestimmung des Seins nicht vorstellbar. Ob es sich um die belebte oder unbelebte Natur, die physikalische Teilchenstruktur der Materie oder die Dynamik der menschlichen Ideen von sich selbst und ihrer Umwelt handelt, überall ist Bewegung. Alles fließt und das unbewegt Erscheinende verbirgt lediglich seinen dynamischen Charakter. Veränderung ist das einzig Sichere des Kosmos. Das Wissen der altgriechischen Philosophie zieht sich durch bis in die Moderne. Ob im dialektischen Idealismus Hegels oder in politökonomischen Geschichtsauffassungen, stets gilt Veränderung als das notwendige Ergebnis des Widerstreits von Ideen oder von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Auch wenn uns teleologische Geschichtsmodelle heute suspekt sind, eine Welt ohne Wandel ist nicht in Sicht und wird auch von niemandem ernsthaft erwartet. Alles Sein ist ein stetiges Werden und Vergehen.
Aber nicht jede Veränderung ist unmittelbar sichtbar, etwa der Fäulnisprozess eines Apfels oder das Rosten des Eisengitters. Hinzu kommen bei komplexen Vorgängen die begrenzten menschlichen Verarbeitungsfähigkeiten, die Veränderungen nicht wahrnehmen und stattdessen Konstanz sehen wollen. Gleichwohl wissen wir, dass nichts so bleibt, wie es ist. Dies mag eine bedrohliche Erkenntnis sein. Um sie zu ertragen, gibt es Hilfskonstrukte. Kollektive Regelungen und Deutungen tragen dazu bei, dass die Welt nicht täglich neu interpretiert werden muss. Dies gilt insbesondere für soziale Phänomene. Aber mit welchen Mitteln gelingt es einer Gesellschaft, die potentielle Kontingenz alles Wirklichen so auf einen verlässlichen Kern zu reduzieren, dass Alltag möglich wird?
Rituale und Normen schaffen in einer unübersichtlichen Welt Sicherheit. Aus der Menge denkbarer Möglichkeiten werden einige Verhaltensmuster als sozial angemessen definiert und tragen so dazu bei, dass wir diese nicht nur selbst beim Handeln berücksichtigen, sondern sie mit einer gewissen Eintrittswahrscheinlichkeit auch von anderen erwarten dürfen. Dies gilt selbst innerhalb wilder jugendlicher Subkulturen, die sich die Freiheit von allen Zwängen auf die Fahne geschrieben haben. Wie man sich kleidet, wie man zu kommunizieren und welche Musik man zu hören hat, ist innerhalb einer solchen Gruppe mitunter rigide vorgegeben. Auf längere Sicht jedoch ist auch dies einem Wandlungsprozess unterworfen, und der Punk, der seinen Stil einstmals für den einzig vorstellbaren Lebensentwurf hielt, erkennt eines Tages, dass es sich um eine vorübergegangene Phase gehandelt hat.
In einer unübersichtlichen Welt ist Handlungsfähigkeit nur dann gesichert, wenn zumindest einige Dinge als konstant und mit sich selbst identisch betrachtet werden. Fotografien können da als Hilfskonstrukte dienen, auch für das Festhalten kurzer Augenblicke, die so zu einem Stück Ewigkeit werden. Sie zeigen, was im Augenblick der Aufnahme vor dem Objektiv stattgefunden hat. Ob es sich um eine dreißigstel oder eine tausendstel Sekunde handelt, stets verweist die Fotografie auf etwas, das in genau dieser Zeitspanne geschehen ist. Dies bedeutet nicht, dass alle dynamischen Ereignisse festgehalten sind. Die aus der Frühphase der Fotografie bekannten Aufnahmen zeigen meist menschenleere Straßen. Während alles Statische fixiert ist, hat Bewegliches aufgrund der langen Belichtungszeiten keine Spuren hinterlassen.
Ein Maler kann sich für sein Werk hingegen beliebig viel Zeit nehmen. Das Tempo der Arbeit und somit den zeitlichen Aufwand bestimmt nur er selbst. Je gegenständlicher das Bild angelegt ist, umso länger wird er benötigen. Ob es sich um ein klassisches Stillleben handelt oder eine schnelle Szene, die Dauer des Schaffens steht ausschließlich mit der Detailtiefe sowie dem Grad der angestrebten Genauigkeit in Zusammenhang, nicht jedoch mit dem Motiv. Selbst die schnellste Szene kann beliebig langsam gemalt werden. Für die Darstellung eines entscheidenden Augenblicks steht im Atelier so viel Zeit zur Verfügung, wie es der Künstler für die adäquate Wiedergabe seiner Vorstellungen für notwendig hält.
Der Begriff der Gegenwart ist in der Regel trotz seiner zeitlichen Unbestimmtheit zwischen Vergangenheit und Zukunft weiter gefasst als der des Augenblicks. Dieser wurde für die Fotografie erst im Zwanzigsten Jahrhundert relevant. Zuvor, etwa hundert Jahre vor Einführung der modernen Kleinbildkamera, war 1826 Niepce die beständige Fixierung eines Bildes auf einer lichtempfindlichen Schicht gelungen. Zeitgleich hatte sich auch Daguerre mit dem Projekt der Speicherung von Bildern befasst. Beiden war intuitiv bewusst, dass die neue Technik mehr Potentiale in sich trug als die seit langem bekannte camera obscura. Diese hatte nur eine Projektion statischer Szenen ermöglicht, die von Hand nachgezeichnet wurden. Sie war damit kein Aufnahmegerät, sondern lediglich Hilfsmittel. Für das Festhalten entscheidender Augenblicke in dynamischen Situationen war sie ungeeignet.
Bis zum Festhalten schneller Vorgänge war es noch ein weiter Weg. Erst einmal war man mit technischen Fragen befasst. Dazu gehörten neben der chemischen Beschaffenheit des Bildträgers insbesondere die kontrollierte Steuerung der Belichtung durch Blende und Verschluss sowie die Berechnung der Objektive. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde die fotografische Fixierung immer kürzerer Momente schließlich realisierbar. Die Suche nach dem entscheidenden Augenblick konnte beginnen. Eadweard Muybridge wies schon 1878 nach, dass ein galoppierendes Pferd für einen Sekundenbruchteil keinen Bodenkontakt aufweist, und mit Hilfe chronofotografischer Reihenaufnahmen ließen sich die Bewegungsabläufe verschiedener Sportarten analysieren. Die Fotografie wurde zum Hilfsmittel für die Sichtbarmachung von Vorgängen, die mit dem bloßen Auge nicht wahrzunehmen waren.
Nachdem es gelungen war, nasse durch trockene Glasplatten zu ersetzen, folgte der Negativfilm auf Zelluloidbasis. Parallel hierzu hatte Kodak in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die erste Rollfilmkamera auf den Markt gebracht, die aufgrund der Verkapselung des Films auch bei normalem Umgebungslicht bestückt werden konnte. Bis in das Zwanzigste Jahrhundert hinein waren die Klapp-, Falt- und Balgenkameras das Mobilste und Schnellste, was dem Fotografen zur Verfügung stand. Schnappschüsse nach heutigem Verständnis waren mit dieser Technik allerdings noch immer kaum möglich. Parallel wurde das Aufnahmematerial für den Kinofilm entwickelt, bei dem sich das am Rand perforierte 35-mm Format durchsetzte. Als Folge der Verbesserung von Auflösung und Körnigkeit war es ein naheliegender Schritt, auch für die Fotografie das kleinere Format des Kinofilms zu nutzen und mit ihm den Rollfilm zu ersetzen. Die Realisierung dieser Idee erfolgte durch Oskar Barnack, der im Jahr 1914 den ersten Prototyp der Leica vorstellte.
In den 1920er Jahren hatte sich Barnacks Konzept durchgesetzt, und die in großer Stückzahl hergestellte Leica wurde weltweit verkauft. Insbesondere Reportagefotografen erkannten ihre Vorteile. Als Messsucherkamera war sie insbesondere für die kürzeren Brennweiten vom leichten Weitwinkel bis zur Normaloptik ausgelegt. Hinzu kam der leise Schlitzverschluss, der ein unauffälliges Arbeiten unterstützte. Mit der Leica stand damit eine Kamera zur Verfügung, die prädestiniert war für Aufnahmen inmitten des Geschehens und des nichtinszenierten Lebens. Insbesondere die Stadt mit ihrer allgegenwärtigen Geschwindigkeit bot sich für die Suche nach besonderen Momenten des Lebens an. In diesem Umfeld entwickelte sich die Fotografie des Augenblicks. Ziel war jetzt nicht mehr das Bild mit der gestellten Idealpose, sondern die Entdeckung der Wahrheiten des schnell Vorübergehenden, mitunter wie zufällig Erscheinenden. Die neue Sichtweise führte in den 1920er und 30er Jahren zu einer Ästhetik, die für die künstlerische Fotografie bis heute von Bedeutung ist. Das Neue Sehen und die Subjektive Fotografie wurden zu wirkungsvollen Paradigmen der Fotografie.
Beim voranstehenden Text handelt es sich um überarbeitete Auszüge aus dem fotosinn Essay Der magische Augenblick.