Dirk Reinartz in der Kunsthalle Erfurt

Allen Freundinnen und Freunden der klassischen analogen Reportagefotografie unbedingt zu empfehlen und ein Beleg dafür, dass überzeugende Fotografie keine digitale Hyperperfektion benötigt: Die vorzügliche Ausstellung Dirk Reinartz. Fotografieren, was ist in der Kunsthalle Erfurt. Schwarzweißaufnahmen in kleineren Formaten und einige Farbserien bezeugen das Können eines Fotografen, der sein Handwerk gelernt hat und dies sowohl bei Auftragsarbeiten wie auch in eigenen Projekten umsetzte. Einen besonderen Schwerpunkt bildete die Suche nach der deutschen Identität mit ihren historischen Brüchen und Widersprüchen. So befasste sich Reinartz in fotografischen Erzählungen mit dem Leben in beiden deutschen Staaten sowie den Herausforderungen nach dem Fall der Mauer. Aber er war auch weltweit unterwegs. Seine Bildsprache war stilprägend für einen essayistisch angelegten Fotojournalismus, dem es mehr um Empathie und Typisches ging als um die schnelle Sensation.

Dirk Reinartz starb 2004 im Alter von nur 57 Jahren. Die heutige Digitalwelt mit ihren cleanen und häufig durch Masse belanglos erscheinenden Fotografien hatte er in dieser Ausprägung nicht mehr erlebt. Fotografieren war für ihn noch eine analoge Angelegenheit. Das begann bei der Arbeit mit seiner Nikon F, mit der er in manchen Jahren bis zu 40 000 Bilder aufnahm, und endete mit der Ausarbeitung der Abzüge in der Dunkelkammer. Studiert hatte Reinartz bei Otto Steinert an der Folkwangschule in Essen. Für den Stern unternahm er weltweit zahlreiche Reisen. Nach einigen Jahren der Zugehörigkeit zur Fotografengruppe VISUM arbeitete er dann aber nur noch unabhängig. Seine Reportagen erschienen weiterhin in großen Magazinen wie Life, Fortune, Spiegel, SZ-Magazin sowie Zeitmagazin und Art. Neben den Sozialreportagen bildeten Künstlerporträts einen weiteren Schwerpunkt. Darüber hinaus präsentierte Reinartz seine Fotografien in mehr als 20 Fotobüchern und zahlreichen Ausstellungen von New York bis Berlin. In den Jahren vor seinem Tod 2004 lehrte er als Professor für Fotografie an der Muthesius-Kunsthochschule in Kiel. Sein umfangreiches Archiv wird von der Stiftung F.C. Gundlach und der Deutschen Fotothek Dresden betreut.

Die Ausstellung der Kunsthalle Erfurt zeigt Reportageprojekte aus verschiedenen Ländern. 1972 reiste Reinartz nach Grönland und fotografierte dort Bilder, die als Begleitung zu dem im Stern auszugsweise abgedruckten Roman Die Nacht des weißen Bären dienten. Im Vorfeld eines Staatsbesuches in der Bundesrepublik dokumentierte er 1973 den in Rumänien allgegenwärtigen Personenkult um Nicolae Ceausescu. In den Jahren 1974 und 1976 reiste Reinartz nach Nordirland, um den Alltag im damaligen Bürgerkrieg festzuhalten. In Izmir ging es um das Leben einer türkischstämmigen Familie, die nach Jahren in Deutschland in die Heimat zurückkehrt, und die zwiegespaltene Orientierung hinsichtlich beider Kulturen. Was den Eltern vertraut war, verband sich für die Kinder mit dem Verlust des bisherigen Zuhauses. 1976 reiste Reinartz in die USA und fotografierte, hier als Diaserie, den Roadtrip Action Theatre. 1978 folgte ein Besuch der Sowjetunion, der ihn an den sibirischen Baikalsee führte. In Indonesien schließlich ging es um das Thema Bevölkerungswachstum und Geburtenkontrolle. Die Ambivalenz beim Beobachten und Fotografieren der prekären Verhältnisse sowie die Tatsache, dass von dem umfangreichen Bildmaterial nur wenig veröffentlicht wurde, trug zur Kündigung beim Stern bei.

Insbesondere nach der Umsiedelung in die alte Hansestadt Buxtehude im Jahr 1981 rückten deutsch-deutsche Projekte in den Vordergrund. Seit Anfang der 1980er Jahre setzte er dabei auch Mittelformat- und Großformatkameras ein. Seine Arbeiten wurden konzeptioneller. So in der Reportage Hamburg-Horn, die sich mit der Anonymität in einer Hochhaussiedlung befasste. Ebenfalls 1980 begleitete Reinartz einen Arzt des Hamburger Hafenkrankenhauses während eines damals noch üblichen 32-Stunden-Dienstes. 1981 folgten die Dokumentation der ritualisierten Feierlichkeiten zum 1. Mai in der Arbeiterstadt Essen sowie ein Porträt Buxtehudes und eine Bildserie für Merian zum Stadtviertel St. Georg in Hamburg. 1982 fotografierte er Motive aus dem bundesrepublikanischen Zonenrandgebiet. 1986 folgten Besonderes Kennzeichen: Deutsch mit vergleichenden Dokumenten aus dem Alltag im ostdeutschen Jena und dem westdeutschen Erlangen sowie 1989 das Projekt zweier Abiturklassen aus Hagen und Wittenberg. 1984 und 1989 schilderte Reinartz in zwei Reportagen für das ZEITmagazin Migrationsgeschichten vom Osten in den Westen. Die Reportage Neue Heimat zeigte anhand einer Familie, die aus Hessen in das Havelland übersiedelte, aber auch einen umgekehrten Wechsel von West nach Ost. Das Fotobuch Kein schöner Land fasste 1989 viele seiner bis dahin entstandenen Deutschlandbilder zusammen. 1991 fotografierte Reinartz in der Serie Warteschleife Menschen, die kurz nach der Wende an einer ostdeutschen Telefonzelle anstanden, um in Ermangelung eines eigenen Telefonanschlusses einen Kontakt zu Bekannten und Verwandten im Westen herzustellen. Daneben schuf er zusammen mit Christian Graf von Krockow das Buch Bismarck, das sich mit der deutschen Allgegenwart von Denkmälern des Eisernen Kanzlers befasste. Nach dem Fall der Mauer fotografierte Reinartz für das ZEITmagazin eine Serie zur Stasi-Unterlagen-Behörde. 1997 folgte das Fotobuch Deutschland durch die Bank, das Motive banaler Stadtmöblierungen bündelte.

Reinartz befasste sich als Teil der deutschen Geschichte immer wieder mit dem Nationalsozialismus und dessen Verbrechen. Über mehrere Jahre besuchte er 25 Konzentrationslager in verschiedenen Ländern und fasste die dabei entstandenen Aufnahmen 1994 in dem Fotobuch totenstill zusammen. Die Erfurter Ausstellung würdigt dies auf beklemmende Weise. Der schmale Gang mit beidseitig an den Wänden platzierten Fotografien unterstreicht das Bedrückende des Geschehenen.

Künstlerporträts, insbesondere für das Magazin art, wurden im Laufe der Zeit neben dem Sozialdokumentarischen zu einem weiteren Markenzeichen von Dirk Reinartz. Die Ausstellung hebt vor allem die Arbeit mit und für Richard Serra hervor, mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verband. Seit 1983 begleitete er dessen Werk und sein Entstehen. Fotografien aus dem Atelier, aus Stahlwalzwerken und von weltweiten Ausstellungen Serras sind nicht nur nüchterne Bilddokumente. Stets setzte er die Skulpturen in Verbindung zu ihrer Umgebung, nicht zuletzt Landschaften. Die Ideen Serras fanden so ein kongeniales bildnerisches Äquivalent.

Hervorzuheben ist die in der Filmbox der Kunsthalle Erfurt gezeigte 33-minütige Diashow Mein Werdegang, die auf die Bewerbung von Dirk Reinartz auf die Professur an der Muthesius Kunsthochschule Kiel 1997 zurückgeht und später von im selbst sowie nach seinem Tod von Karin Reinartz ergänzt wurde. Bild und gesprochener Text vermitteln etwas von der Haltung und den fotografischen Intentionen dieses bemerkenswerten Fotografen.

Das alles ist von Form und Inhalt sehr gelungen. Die exzellenten Räumlichkeiten und die klug arrangierte Präsentation der Werke von Dirk Reinartz bilden eine beeindruckende Verbindung. Ein Besuch ist unbedingt zu empfehlen.

Die Ausstellung in der Kunsthalle Erfurt ist noch bis zum 16.11 2025 zu sehen. Sie entstand in Zusammenarbeit mit dem LVR-Landesmuseum Bonn, der Stiftung F.C. Gundlach und der Deutschen Fotothek. Letztere bietet online in ihrer Galerie einen umfangreichen Überblick über die Fotografien von Reinartz, ebenso das Archiv der Stiftung F.C. Gundlach. Die Digitalisierung schmälert zwar den auratischen Reiz der in der Ausstellung präsentierten Analogabzüge, belegt aber die große Bandbreite des Fotografen und dessen Sicht auf die Dinge. Die im Steidl Verlag erschienenen, hervorragend gedruckten Fotobücher von Dirk Reinartz vermitteln diesbezüglich aber einen noch besseren Eindruck. Das Buch Fotografieren, was ist, nimmt im Übrigen direkten Bezug auf die in Erfurt gezeigten Aufnahmen.

 

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