Subjektive Dokumentation
Die fotografische Sammlung des Museum of Modern Art in New York gilt als einzigartig. Einige Ausstellungen wurden selbst zu Meilensteinen der Fotografiegeschichte. Neben The Family of Man (1955) zählt hierzu New Documents aus dem Jahr 1967 mit nicht einmal hundert Schwarzweißfotografien. Einen Katalog gab es damals nicht. Erst fünfzig Jahre später wurde vom MoMA eine Dokumentation zusammengestellt und mit Begleittexten als Buch veröffentlicht. Es vermittelt einen Eindruck davon, warum die Ausstellung eine geradezu paradigmatische Bedeutung für die zeitgenössische Fotografie bekam.
Die Sixties waren für US-Amerika eine traumatisierende Dekade. Die nationale Zerrissenheit vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges, die Ermordung der Kennedys und Martin Luther Kings, auch das tödliche Attentat auf Malcolm X aus den Reihen der radikalisierten Bürgerrechtsbewegung legten die Spannungen offen. Gründe für eine sozialkritische Fotografie hätte es ausreichend gegeben. Umso bemerkenswerter, dass der für das Department Fotografie des MoMA verantwortliche Kurator, John Szarkowski, einen anderen Weg einschlug und 1967 mit Diane Arbus, Lee Friedlander und Garry Winogrand eine Fotografin und zwei Fotografen präsentierte, die bis dahin noch nicht zu den Stars gehörten und sich kaum dem etablierten Dokumentaransatz in der Tradition Dorothea Langes oder eines Walker Evans zurechnen ließen. Stattdessen wandte sich die neue Generation dem unspektakulären, alltäglichen Leben mit seinen mannigfaltigen, auf den ersten Blick mitunter nicht selten belanglosen Facetten zu. Um die Darstellung sozialer Missstände ging es ihnen, zumindest vordergründig, nicht. Dies schloss Kritisches nicht aus. Unterschwellig ist dies beim Betrachten der Bilder spürbar, und dennoch, es sind überwiegend, wie der Titel der Ausstellung programmatisch versprach, New Documents bislang wenig verbreiteter Sichtweisen und Themen.
Diane Arbus, Lee Friedlander und Garry Winogrand wollten mit ihren Fotografien nicht die Welt verändern. Neutral, objektiv, unpolitisch sind sie gleichwohl nicht. Nur ist der Betrachter jetzt selbst gefordert, eine Stellungnahme zu entwickeln. Bei Dorothea Lange oder Walker Evans war die Botschaft offensichtlich. Armut und soziale Ungerechtigkeiten lösten Empörung aus. Sie bewirkten beim Betrachter Betroffenheit und eine kritische Positionierung. Bei Arbus, Friedlander und Winogrand hingegen stellt sich das Unbehagen eher subkutan ein. Man betrachtet die Fotografien und ist nicht selten irgendwie verstört. Dabei weisen die Werke jeweils eigenständige Merkmale auf. Insbesondere gilt das für Diane Arbus. Dies wurde 1967 deutlich. Für die Ausstellung im MoMA standen zwei Galerieräume zur Verfügung, einer gemeinsam für Friedlander und Winogrand sowie ein eigenständiger Bereich für Arbus.
Diane Arbus war durch und durch Portraitfotografin. Lediglich eine einzige weihnachtliche Zimmerszene bleibt menschenleer. Alle übrigen Fotografien, ganz überwiegend im quadratischen Mittelformat aufgenommen, sind Einzel- oder Gruppenportraits. Der wütend blickende Junge mit einer Spielzeughandgranate, der junge Mann mit Lockenwicklern, Bilder aus den nächtlichen Subkulturen New Yorks oder die Fotografie eines Teenager Paares mit erschreckend erwachsenem Habitus, alle diese in der Ausstellung gezeigten Aufnahmen gehören heute zur Ikonografiegeschichte der modernen Fotografie. Aber es sind nicht nur die ungewöhnlichen Typen, die Arbus fasziniert haben. Bilder aus einem Nudistencamp sowie eine Reihe von Einzel- und Doppelportraits zeigen ganz normale Menschen, denen überhaupt nichts Auffälliges oder Sonderbares anhaftet. Und dennoch wird man das Gefühl nicht los, dass es sich nicht um Bilder aus dem Kanon der üblichen fotografischen Sozialdokumentation handelt.
Die Veranstaltung im MoMA bedeutete für Diane Arbus den künstlerischen Durchbruch. Aber es blieb die erste und einzige Ausstellung auf einem solchen Niveau, die zu ihren Lebzeiten stattfand. Arbus starb schon 1971. Im Jahr darauf zeigte die Biennale in Venedig zehn ihrer Fotografien, danach folgten außerhalb der Vereinigten Staaten weitere Ausstellungen. In ihrer Heimat kam es erst in den 80er Jahren zu umfassenden Retrospektiven. Anders als Arbus waren die jüngeren Friedlander und Winogrand bis 1967 bereits in größeren Ausstellungen vertreten. Auch hatte das MoMA deutlich mehr Fotografien dieser beiden für den eigenen Bestand angekauft als von Arbus. Szarkowskis Ausstellungskonzept trug deshalb deutliche Züge einer nachholenden Aufwertung der Fotografin. Das Publikum sowie die Rezensenten haben dies offenbar verstanden. Die Berichterstattungen zur Ausstellung stellten nahezu durchgängig das Werk von Arbus in den Mittelpunkt.
Friedlander und Winogrand wurden von der Kritik oftmals nur am Rande erwähnt. Ihre Fotografien wiesen trotz Bildgestaltungen jenseits der klassischen Regeln eben nicht das gleiche Verstörungspotential auf wie die von Arbus. Und im Übrigen gab es mit Robert Franks The Americans von 1958 einen Vorgänger mit ähnlichem Ansatz, so dass die Fotografien von Friedlander und Winogrand auf vorbereiteten Boden fielen. Und dennoch waren ihre Bilder aus dem Straßenalltag Amerikas noch eine Spur radikaler als die von Robert Frank. Angeschnittene Körper, wilde Schaufensterspiegelungen, Schnappschussunschärfen, starke Kontraste mit zugelaufenen Tiefen, das alles waren Merkmale der modernen Straßenfotografie.
Bis heute zeigt sich das Publikum angetan von Schwarzweißaufnahmen in traditionellen, kleineren Rahmengrößen. Eindrucksvolle Fotografie setzt eben nicht unbedingt einen riesigen digitalen Produktionsaufwand und spektakuläre Bildformate voraus. Ob analog oder digital aufgenommen, spielt aber nicht unbedingt eine Rolle. Und dennoch, die rauhen Merkmale der analogen Straßentechnik scheinen zur Faszination beizutragen. Wir wollen offenbar nicht ständig cleane, technisch perfekte Digitalaufnehmen sehen. Gerade das Ungenaue, teils Unscharfe, im Dunkel Bleibende hat seinen Reiz. Das spricht nicht für unsauberes Arbeiten, relativiert aber einmal mehr den Digitalhype einiger Enthusiasten, denen die Schärfe des letzten Baumzweigleins in der Ecke des Prints wichtiger ist als die eigentliche Bildaussage. New Documents machte deutlich, um was es beim Fotografieren stattdessen wirklich geht.
Das Buch Arbus, Friedlander, Winogrand. New Documents, 1967 wurde 2017 vom Museum of Modern Art herausgegeben; auch die Website zeigt einige Fotografien zur damaligen Ausstellung und bietet weitere Informationen. Federführend verantwortlich für das Buch war Sarah Hermanson Meister, die einen zentralen Essay beisteuerte, der sich auf die Spur nach einer Erklärung für die paradigmatisch gewordene Bedeutung der Schau begibt. Daneben enthält das Buch Texte des damaligen Kurators, John Szarkowski, sowie von Max Kozloff, dessen Originalkritik von 1967 ergänzt wird durch seinen Rückblick aus aktueller Sicht. Installationsaufnahmen sowie ganzseitige Reproduktionen einiger Fotografien von Arbus, Friedlander und Winogrand bilden den Hauptteil des Buches. Hinzu kommen weitere Informationen sowie Texte aus dem Jahr 1967. Mehr zum Buch kann in einem Beitrag des New Yorker nachgelesen werden. Dort erschien anlässlich der Publikation des MoMA die lesenswerte Rezension The Exhibit that Transformed Photography. Dokumentation verband sich damals mit Subjektivem. Dies sollte sich als stilprägend für die nachfolgenden Jahrzehnte erweisen.