Die Objektivitätsfrage in der Fotografie
Alle Überlegungen zum Verhältnis von Wirklichkeit und fotografischem Abbild berühren zwangsläufig die grundlegende Frage nach der Objektivität. Kann eine Fotografie eine neutrale, unverfälschte Darstellung der Realität bieten, oder ist jedes Bild notwendigerweise perspektivisch, subjektiv und mitunter auch ideologisch geprägt? Diese Debatte ist nicht nur für die Fototheorie zentral, sondern reicht bis in die Erkenntnistheorie, die Medienwissenschaft und die Kunstgeschichte hinein.
Seit ihrer Erfindung im 19. Jahrhundert galt die Fotografie lange Zeit als Garant für Wahrhaftigkeit. Im Gegensatz zur Malerei, die stets die Handschrift des Künstlers trägt, schien die Kamera ein mechanisches, unvoreingenommenes Aufzeichnungsinstrument zu sein. Diese Vorstellung prägte frühe Diskurse, etwa in der Wissenschaftsfotografie der Astronomie oder Medizin oder im journalistischen Kontext, wo Fotografien als Beweismittel galten. Doch schon früh zeigten sich die Grenzen dieser Annahme.
Jede Aufnahme ist abhängig von Brennweite, Belichtung, Schärfentiefe und Filmmaterial oder der vorprogrammierten digitalen Sensorik. Eine Weitwinkelaufnahme verzerrt den Raum anders als ein Teleobjektiv; eine Langzeitbelichtung kann Bewegung verdeutlichen, während eine kurze Verschlusszeit sie einfriert. Der Fotograf entscheidet darüber hinaus, was überhaupt im Bildrahmen erscheint und was ausgeschlossen bleibt. Diese Auswahl ist nicht neutral, sondern folgt ästhetischen, politischen oder emotionalen Kriterien. Susan Sontag betonte in Über Fotografie, dass jedes Foto eine Interpretation der Realität darstellt.
Die Frage, ob es eine neutrale Sicht der Dinge geben kann, verweist auf ein erkenntnistheoretisches Grundproblem: Jede Wahrnehmung ist perspektivisch. Nelson Goodman argumentierte in Sprachen der Kunst, dass es keine reine Darstellung der Welt gibt, sondern nur verschiedene Versionen von Wirklichkeit. In der Fotografie zeigt sich dies besonders deutlich. Was als wichtig oder abbildenswert gilt, hängt von gesellschaftlichen Normen und persönlichen Vorlieben ab. Ein Streetfotograf wie Henri Cartier-Bresson suchte den entscheidenden Moment, während ein Konzeptkünstler wie Jeff Wall inszenierte Tableaus schafft. Kritische Theorien, etwa von Roland Barthes oder John Berger, hinterfragten darüber hinaus, was überhaupt sichtbar gemacht wird und was nicht. Koloniale Fotografien des 19. Jahrhunderts konstruierten zum Beispiel ein eurozentrisches Weltbild, während zeitgenössische Fotografinnen und Fotografen, etwa Nan Goldin oder Sebastião Salgado, marginalisierte Perspektiven hervorheben.
Hinter der fotografischen Objektivitätsdebatte verbirgt sich die philosophische Streitfrage, ob eine vom Beobachter unabhängige Realität überhaupt existiert, und wenn ja, wie sie beschaffen ist. Immanuel Kant unterschied zwischen dem unerkennbaren Ding an sich und der durch menschliche Kategorien geformten und nur so wahrgenommenen Erscheinung. Die Fotografie spiegelt dieses Dilemma wider. Charles S. Peirce bezeichnete Fotografien als indexikalische Zeichen, da sie zwar durch eine physikalische Kausalität wie dem Lichteinfall entstehen. Doch selbst wenn ein Foto chemisch echt ist, bleibt es eine Reduktion. Dreidimensionale Räume werden flach, Farben können verfälscht werden, und der Kontext geht verloren. Mit Tools wie Photoshop ist die Grenze zwischen Original und Fälschung im Übrigen noch poröser geworden.
Selbst wenn man ontologische Fragen offenlässt, bleibt festzuhalten: Fotografieren ist eine kontingente Praxis. Jede Aufnahme ist eine von vielen möglichen Versionen einer Situation. Die gleiche Szene kann bei Sonnenuntergang romantisch, bei Neonlicht artifiziell oder in Schwarzweiß zeitlos wirken. Der Fotograf wählt aus, welche Aspekte betont werden, etwa durch Schattenführung, Kontrast oder Fokus. Künstler wie Bernd und Hilla Becher demonstrierten durch ihre nüchternen Typologien von Industriebauten darüber hinaus, dass erst die Wiederholung Strukturen sichtbar macht. Das einzelne Bild wäre hingegen eine zufällige Momentaufnahme.
Die Suche nach einer absoluten Wahrheit im Bild erweist sich als illusionär. Fotografie ist immer gebrochen: durch Technik, durch den Fotografen, durch den Betrachter. Doch gerade in der Ambivalenz kann auch eine Stärke liegen. Wie Vilém Flusser in Für eine Philosophie der Fotografie gezeigt hat, geht es nicht darum, Realität abzubilden, sondern Bedeutung zu generieren. Die Wahrheit der Fotografie liegt nicht in ihrer Objektivität, sondern in ihrer Fähigkeit, Diskurse anzustoßen, sei es in der Kunst oder auch im Journalismus. Der erweiterte Rahmen macht deutlich, dass die Fotografie kein passives Spiegelmedium ist, sondern ein aktiver Aushandlungsraum von Wirklichkeit.
Einige der fotosinn Essays umkreisen die hier aufgezeigte Thematik von verschiedenen Seiten.