Fotografie und Poesie

An der Wand eine Fotografie. Ein schweigendes Bild. Und auf dem Tisch ein Band mit Gedichten. Auch diese schweigen. Aber hier ist es eine Stille, die darauf wartet, durch Sprache oder auch nur im Kopf des Lesers zum Laut zu werden. Fotografie und Poesie scheinen verschiedenen Welten anzugehören. Hier die Optik als mechanisches Auge, dazu der unbestechliche Sensor, der das Licht verarbeitet. Dort der Rhythmus, die Metapher, die subjektive Sprache, die aus Gedanken schöpft. Doch je länger man beide betrachtet, desto mehr beginnen die Grenzen zu verschwimmen. Fotografie und Poesie wollen die Dinge bannen und rebellieren gegen das Vergehen.

Wenn wir eine Fotografie betrachten, analysieren wir die Komposition, entziffern die Symbolik und die Dramaturgie der Schatten. Und wenn wir ein Gedicht lesen, nehmen wir Imaginationen wahr, die mitunter noch schärfer sind als jede Aufnahme. Aber hier beginnt auch schon der erste Riss in der Analogie. Die Fotografie ist, wie es Roland Barthes in Die helle Kammer beschrieb, an einen Referenten gebunden. Das, was auf dem Foto zu sehen ist, musste bei der Aufnahme als Objekt vor der Linse gewesen sein. Es gibt eine physische Verbindung, eine Nabelschnur aus Lichtstrahlen, die das Objekt mit dem Bild verbindet. Dies gilt für die analoge Fotografie, aber eingeschränkt auch für das unbearbeitete digitale Bild. Die Fotografie ist ein Abdruck, eine Spur. So wie ein Fußabdruck im Sand beweist, dass dort ein Fuß war. Sie ist indexikalisch.

Das Gedicht ist frei von einer solchen Beweislast. Wenn Rilke über einen Panther schreibt, muss kein Panther im Jardin des Plantes vor ihm gestanden haben. Das Wort allein ruft das Wesen des Tieres hervor, auch ohne physische Anwesenheit. Das Gedicht kann vorgaukeln, es kann Welten erfinden, die nie existierten. Auch eine Fotografie kann täuschen, durch Perspektive und Inszenierung, aber sie kann sich nicht gänzlich von der Materie lösen, die sie abbildet. Stets ist sie Hinweis auf ein Es ist so gewesen, das Gedicht hingegen ein Zeugnis des Es ist so gefühlt.

Henri Cartier-Bresson prägte den Begriff des Entscheidenden Augenblicks. Es ist dieser Bruchteil einer Sekunde, in dem sich Geometrie, Licht und Bedeutung zu einem Ganzen fügen. Der Fluss des Lebens wird gestoppt, eingefroren zu einer dünnen Scheibe Ewigkeit. Der Moment, den sie zeigt, ist unwiederbringlich vergangen. Das Gedicht arbeitet ebenfalls mit einem Schnitt, aber auf andere Weise. Das Ende einer Gedichtzeile oder einer Strophe ist eine künstliche Pause, ein weißer Raum. Der Zeilensprung ist das poetische Äquivalent zur Bewegungsunschärfe in der Fotografie. Es zieht den Sinn von einer Zeile in die nächste, es schafft Dynamik.

Der Fotograf wählt einen Ausschnitt. Was dieser nicht zeigt, ist oft genauso wichtig wie das, was er zeigt. So schneidet er etwa den Müllhaufen am Rande des Strandes ab, um die Schönheit des Meeres zu betonen. Der Rahmen ist eine Entscheidung, eine Meinung, Folge des Blickwinkels und der gewählten Brennweite. Er zwingt den Betrachter, genau das zu sehen und nichts anderes. Dennoch lässt sich weiterdenken, über den Bildrahmen hinaus. Der Dichter tut Ähnliches mit dem weißen Raum auf dem Papier. Ein Gedicht besteht nicht nur aus Buchstaben, sondern auch aus dem Nichts, das sie umgibt. Das Ungesagte, die Andeutung sind Werkzeuge der poetischen Dunkelkammer. Aber sowohl das Foto als auch das Gedicht kauen nichts vor, sie vertrauen auf die Aktivität des Rezipienten. Sie zeigen ein Fragment und fordern auf, das Ganze zu rekonstruieren. Das Foto eines leeren Stuhls kann sprachlos von Verlust erzählen. Ein Gedicht über Herbstlaub mag von Vergänglichkeit sprechen, ohne das Wort zu bemühen.

In der Fotografie gibt es den Kult der Schärfe. Objektive werden getestet, Pixel gezählt. Die Realität soll so präzise wie möglich abgebildet werden. Dabei ist längst bekannt, dass oft erst in der Unschärfe die Wahrheit liegt. Ein verwischtes Gesicht kann mehr über die Person aussagen als ein gestochen scharfes Porträt, das jeden Pickel zeigt. In der Poesie entspricht dem die Ambivalenz. Ein Gesetzestext muss scharf sein, eindeutig. Ein Gedicht darf, ja muss schillern. Ein Wort kann zwei, drei Bedeutungen haben. Metaphern sind per se unscharf. Deine Augen sind Sterne. Sie sind es faktisch nicht, aber in der poetischen Unschärfe werden sie es. Von einer Fotografie erwarten wir dagegen meist einen gewissen Realismus und fragen: Wo war das? Wer ist das? Wir suchen nach Fakten im Bild. Beim Gedicht akzeptieren wir das Rätsel. Wir fragen nicht, welche Blume der Dichter wohl genau gemeint haben mag. Wir verstehen sie als Symbol. Wer hier Realismus verlangt, tötet das Gedicht. Oder, wie Eckermann es Goethe in einer Notiz vom 27. Dezember 1826 sagen lässt: Man will Wahrheit, man will Wirklichkeit und verdirbt dadurch die Poesie.

Roland Barthes sprach vom Studium und vom Punctum. Das Studium entspricht dem allgemeinen Informationsinteresse an einem Foto. Das Punctum hingegen ist der kleine Stich, der Zufall, das Detail, das persönlich trifft und mitunter sogar verwundet. Die schmutzigen Fingernägel des Kindes. Der schiefe Kragen des Soldaten, der vielleicht bald sterben muss. Gibt es das auch im Gedicht? Sicher, es ist diese eine Zeile, die nicht aus dem Kopf gehen will, während man den Rest des Gedichts vielleicht vergisst. Aber es gibt einen Unterschied in der Wirkungsweise. Das fotografische Punctum ist oft ein Detail, das der Fotograf gar nicht bemerkt hatte, bevor er auf den Auslöser drückte. Die Kamera registriert alles, sie ist gleichgültig gegenüber der Bedeutung. Das poetische Punctum hingegen ist intendiert. Der Dichter oder die Dichterin hat genau dieses Wort gewählt. Es gibt keine zufälligen Details in einem perfekten Gedicht. Alles ist Absicht. Außer vielleicht beim automatischen Schreiben der Surrealisten.

Die klassische analoge Fotografie ist ein alchemistischer Vorgang. Das Bild schlummert latent im Film, bis es durch ätzende Bäder ans Licht gebracht wird. Es ist ein Prozess des langsamen Erscheinens. Wer je in einer Dunkelkammer stand, kennt den Moment, wenn auf dem weißen Papier in der Schale plötzlich Konturen auftauchen wie Geister aus dem Nebel. Das Schreiben eines Gedichts ist eher das Gegenteil, nicht so sehr das Entwickeln eines bereits vorhandenen, latent fertigen Gedankens, sondern ein mühsames Ringen. Oder, wie es Michelangelo über die Skulptur sagte: Die Figur steckt schon im Stein, man muss nur alles überflüssige Material weghauen. Dichter beschreiben den Prozess ähnlich. Das Gedicht ist irgendwo im Unbewussten, und man muss seinen Sinn im Kopf durch Streichen, durch Korrektur, durch Verdichtung der Worte freilegen.

Ist der digitale Fotograf von heute dann nicht eher wie ein Dichter? Er sitzt am Computer, seinem Schreibtisch, hat als Rohmaterial die RAW-Datei und beginnt zu interpretieren. Er zieht an Reglern, verändert Farben, Kontraste, Ausschnitte. Er dichtet das Bild um, bis es seiner Vorstellung entspricht. Die Grenze zwischen dem Objektiven des Lichtabdrucks und dem Subjektiven der Bearbeitung ist im digitalen Zeitalter unscharf geworden. Das Foto nähert sich der Malerei und der Dichtung an. Es wird zum Konstrukt. Von KI-Bildern soll hier im Übrigen nicht die Rede sein. Sie gehören nach unserem Verständnis nicht in die Kategorie Fotografie.

Wir leben in einer Zeit der visuellen Inflation. Noch nie wurde so viel fotografiert, noch nie so viel geschrieben. Jeder mit einem Smartphone ist ein Fotograf. Milliarden Bilder fluten das Netz. Das Foto hat seine Aura, seine Einmaligkeit verloren. Es ist zur Wegwerfware geworden, zum Mittel der schnellen Kommunikation. Ich bin hier, ich esse gerade das. Ein Foto teilt etwas mit, oft jedoch nur Geklapper. Man kann über den Verlust an Tiefe und Komplexität die Nase rümpfen. Aber man kann auch eine Rückkehr beobachten. Das Bild und das Wort kämpfen im digitalen Raum auf denselben Bildschirmen um Aufmerksamkeit. Eine gewisse Gefahr liegt dabei in der Banalität. Das tausendste Katzenbild oder ein kitschiges Foto vom Sonnenuntergang können genauso belanglos sein wie ein Reim-dich-oder-ich-fress-dich-Gedicht über Liebesschmerz. Dem Alltagsbewusstsein mag das egal sein. Nicht alles muss hinterfragt werden. Die Herausforderungen für den reflektiert arbeitenden Fotografen und Dichter bleiben hingegen dieselben: Den Blick zu klären. Das Klischee zu vermeiden. In einer Welt voller Lärm etwas Wahres oder Wahrhaftiges zu zeigen oder zu sagen.

 

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