Verbitterung und Ressentiment

Einer der wichtigen Lernprozesse des Lebens besteht darin, Phantasmen und Ressentiments nicht mit der Realität zu verwechseln. Selbst Träume oder Drogenerfahrungen sind zwar im Rahmen der eigenen Lebenswelt in gewisser Hinsicht real; ihre Stoffe bilden jedoch keine Realität ab, die von anderen geteilt werden kann. Auch Vorurteile oder Eifersuchtsdramen konstruieren etwas, das einer nüchternen Überprüfung meist nicht standhält. Sie bleiben Phantasien. Gleichwohl ist man schnell bereit, sie als Beleg für Wirkliches zu halten.

Cynthia Fleury, Philosophin und Psychoanalytikerin, hat mit Hier liegt Bitterkeit begraben. Über Ressentiments und ihre Heilung ein Buch vorgelegt, das den Dingen auf den Grund gehen will. Nicht leicht zu lesen und man muss wohl auch nicht unbedingt jedes theoretische Detail verstehen. Dennoch vermittelt das Buch eine Ahnung von den Ursachen und der Wirkung alltäglicher Ressentiments. Dabei geht es nicht zuletzt um die politische Dimension der Bitterkeit als eines kollektiv wirkenden Phänomens, das sich infolge verbreiteter Gefühle von Enttäuschung, Ungerechtigkeit und Machtlosigkeit herausbildet. Schuld an der schlechten Laune sind, wenn auch diffus, meist andere.

Einige dysfunktionale Erscheinungsformen politischer Systeme sowie wachsende ökonomische Ungleichheiten und Tendenzen sozialer Entfremdung werden aufgrund solcher Stimmungen zur Gefahr für die liberale Demokratie. Die Folgen können Populismus, Zynismus oder ein Rückzug aus dem öffentlichen Diskurs sein. Begegnen lässt sich dem laut Fleury nur, wenn man sich auf den Weg der Selbstreflexion begibt. Gleichwohl bleibt das Buch nicht im Individualpsychologischen stecken. Fleury verbindet literarische Bezüge mit historischen Beispielen und persönlichen Gedanken. Die Berücksichtigung politischer Perspektiven kommt hinzu. Ihr Fazit: Ohne Empathie und eine aktive gesellschaftliche Teilhabe führt kein Weg aus der Verbitterung heraus.

Ressentiments nähren sich aus Ohnmacht, Neid und unterdrückter Rache. Meist werden externe Gründe für das eigene Leiden gesucht. Wer das unbestimmte Gefühl hat, abgehängt zu sein, entwickelt Vorbehalte gegenüber Eliten und vermeintlich Privilegierten. Dabei entstehen Opfernarrative. Aber nicht nur die Entfremdung von denen da oben spielt eine Rolle. Hinzu kommen Identitätskrisen durch Globalisierungsprozesse. Geschichten davon, wie es angeblich früher einmal war, prägen die Gefühlswelt. Schuld an der Aufsplitterung der einstmals homogenen Kulturlandschaft, die es im Übrigen nie gab, sind dann nicht zuletzt Menschen, die aus anderen Ländern stammen. Solche Zuschreibungen werden politisch instrumentalisiert. Die bewusst forcierte Polarisierung gegenüber Fremden sowie die Verbreitung von Verschwörungsbildern fördern Selbstmitleid und Rachephantasien. Konstruktive Lösungen sozialer Konflikte, auch der problematischen Folgen von Migrationsbewegungen, die es real ja gibt, werden erschwert. Gleichwohl sollten Ressentiments laut Fleury aber nicht als populistische Erscheinungen attackiert oder gar verdrängt werden. Sie sind als Emotionen ernst zu nehmen.

Friedrich Nietzsche, auf den sich Fleury mehrfach bezieht, hatte schon vor Freud herausgearbeitet, dass Vorlieben und Meinungen von unbewussten Affekten gesteuert werden. Meist geht es um das Bedürfnis nach Anerkennung. In modernen Wettbewerbsgesellschaften mit ihren oftmals unrealistischen Konsum- und Erfolgsversprechen ist das Ressentiment zum Bestandteil alltäglicher Verarbeitungen geworden. Was man selbst zum eigenen Leidwesen nicht hat, nicht kann, nicht versteht oder nicht darstellt, wird nach längerem Frustrationsaufbau abgelehnt, abgewertet und mitunter auch im eigenen Ich als unbewusster Wunsch nach dem insgeheim Begehrten bekämpft. Ressentiments folgen einem Impuls zum Selbstschutz.

Bleibt die Frage nach der gesellschaftlichen Definitionsmacht bezüglich der Moralsysteme und ihren kulturellen Imperativen. Wir verlassen hier die Argumentation von Fleury und werfen einen Blick auf Nietzsches Genealogie der Moral aus dem Jahr 1887. Schon in der Vorrede wird die Grundthese entfaltet: Wir sind immer dazu unterwegs, als geborne Flügelthiere und Honigsammler des Geistes, wir kümmern uns von Herzen eigentlich nur um Eins – Etwas „heimzubringen“. Nietzsche meinte die Suche nach dem moralisch Guten, bei der, je nach Standpunkt, meist metaphysische oder herbeikonstruierte Antworten gefunden werden. Das Leben selbst, so Nietzsche, bleibt dabei auf der Strecke, und es drängt sich die Frage auf, warum man sich das überhaupt antut. Beim Versuch einer Antwort kam er nicht umhin, den Wert des Moralischen an sich in Frage zu stellen.

Nietzsche betrat die Metaebene der Moralbetrachtung zwar mit Skepsis, aber Nihilismus, wie man ihm vorgeworfen hat, war das nicht. Eher nahm er Thesen vorweg, die später von Freud, Foucault oder Luhmann weiter ausgearbeitet werden sollten. Auch bei ihnen geht es nicht um den Wert einer moralischen Norm an sich, sondern um die Frage nach ihren Ursprüngen und Funktionen sowie um die Identifizierung derjenigen, die über die Macht verfügen, Wertmaßstäbe zu definieren und auch zu etablieren. Nietzsche hatte ganz ähnlich gedacht. Religiöse Dogmen standen dabei ganz oben auf der Liste des Betrachtenswerten. Fröhliche Wissenschaft bedeutete für ihn, das Land der Moral neu zu entdecken, frei von kanonischen Fixierungen vermeintlich letzter, unumstößlicher Werte. Allein die Suche nach dem moralisch Richtigen empfand er als lächerlich. Vor allem blieb er misstrauisch gegenüber dem Durchschnittlichen und Mehrheitsfähigen, bei Moralfragen ebenso wie im Feld der Kunst. Apologet des Elitären war Nietzsche damit jedoch nicht. Eher lässt er sich als früher Kritiker der Konsum- und Massenkultur des aufstrebenden Industriezeitalters verstehen. Das Volk hat gesiegt, so seine Diagnose, die Herren sind abgethan.

Lassen wir uns von der Sprache Nietzsches und ihrem elitär erscheinenden Sound nicht abschrecken, Adorno hätte es nur ein wenig anders formuliert. Dominierend sind in der modernen Warengesellschaft der Mehrheitsgeschmack und die Massenkultur. Herrschaftsfragen spielen hintergründig zwar stets mit, werden aber nur selten reflektiert. Auch bei Nietzsche erfolgt dies nicht systematisch. Als Gesellschaftstheoretiker im modernen Sinnen lässt er sich deshalb nicht bezeichnen.

Er lag mit seiner These vom Ressentiment als Moral der Sklaven aber wohl nicht falsch. Beliebt ist das unmittelbar Verstandene. Dem Übrigen wird schnell mit einem mehr oder weniger heimlichen Groll begegnet. Was man selbst nicht kann, nicht hat, nicht versteht oder was einem nicht gefällt, wird abgewertet. Das alte Spiel, wie in der Geschichte vom Fuchs und den Trauben. Ein Beispiel aus der kleinen Welt der Fotografie. Die liebste Weisheit des Amateurs lautet: Klassische Regeln der Bildgestaltung sind dazu da, dass man sie bricht! Ist man nicht in der Lage, sie zu verstehen und anzuwenden, werden sie gerne zur überflüssigen Norm erklärt. Ähnliches gilt für die Kunstwelt jenseits der Fotografie.

Um den Bogen zu schließen: Wer sich nicht befähigt fühlt, partizipativ an den Regeln demokratischer Aushandlungsprozesse teilzunehmen, neigt dazu, diese grundsätzlich in Frage zu stellen, wird verbittert und entwickelt Ressentiments. Dahinter verbirgt sich aber auch, zumindest latent, ein kritischer Gehalt, geht es doch um die Frage, wer über die Definitionsmacht hinsichtlich kultureller Normen verfügt. Verbreitet ist das Gefühl, es seien irgendwelche Eliten, die dem mehrheitlichen Empfinden etwas aufzwängen, etwa hinsichtlich multikultureller Idealbilder oder bei der Genderthematik.

Aufgabe eines unvoreingenommenen Denkens wäre es, nüchtern zu analysieren und Ressentiments von sozialen Realproblemen zu unterscheiden. Denn dass die Thesen populistischer Kulturkämpfer einer empirischen, soziologisch fundierten Prüfung unterzogen werden können, sollte als unbestritten gelten. Nur mit feuilletonistischer Widerrede ist ihnen nicht wirklich zu begegnen. Dass sich identitäre Vordenker allerdings vollkommen uninteressiert daran zeigen, diesbezüglich einen regelhaften Diskurs zu führen, darf nicht abschrecken.

Ohne eine Reflexion gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse, dies ist vor allem ein Thema sozialer Ungleichheit, bleibt das Ganze diffus und verbleibt bei der Empfindung von Ohnmachtsgefühlen und Rachegelüsten. Bitterkeit eben. Das Ressentiment gegenüber den dafür verantwortlich Gemachten öffnet Tür und Tor für Phantasien, die sich empathischen und sozialen Orientierungen entziehen. Das frustrierte Ego stellt sich selbst in den Mittelpunkt des Geschehens und endet in Verbitterung beim Gedanken an ein aufgezwungenes, nicht wirklich gelebtes Leben. Belehrungen von Seiten einer wohlfeilen Populismuskritik bleiben da meist erfolglos. Niemand hat Lust, sich als dumm bezeichnen zu lassen. Manches wird von den so Angesprochenen als anmaßend empfunden und bewirkt das Gegenteil. Einige Strategen aus der Mitte des Parteienspektrums haben das noch nicht verstanden. Ressentiments lassen sich nun einmal schlecht verbieten.

Bei den Passagen zu Nietzsche handelt es sich um überarbeitete Auszüge aus dem fotosinn Essay Geschwätzigkeit und Massengeschmack.

Das Buch von Cynthia Fleury Hier liegt Bitterkeit begraben. Über Ressentiments und ihre Heilung ist bei Suhrkamp erschienen. Noch einmal, das Buch ist nicht leicht zu lesen. Wenn man sich aber irgendwie durchgekämpft hat, eröffnen sich einige gedankliche Nachwirkungen.

 

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